Autor Kerim Edipoğlu
1. Der Tod – was geht mich das an?
Dass der Schrecken des Todes auf einer beschränkten Sichtweise, quasi einem naiven Denkfehler beruhen sollte, meinte Epikur (gest. 270 v. Chr.) mit wenigen Sätzen begründen zu können:
„So ist also der Tod, das schrecklichste der Übel, für uns ein Nichts: Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr. Folglich betrifft er weder die Lebenden noch die Gestorbenen, denn wo jene sind, ist er nicht, und diese sind ja überhaupt nicht mehr da.“
Doch warum haben über zwei Jahrtausende die Ängste des Menschen nicht ausräumen können? Konnte Epikur sich selbst wirklich von der Gültigkeit seiner Schlussfolgerung überzeugen, oder gleicht es eher einem nervösen Pfeifen im Wald, um drohende Gespenster zu vertreiben? Kann man sich in dem von Epikur gepredigten atomistisch-materialistischen Weltbild wirklich so entspannt und selbstsicher einrichten, wie es das Zitat suggeriert? Auch bei Lukrez (gest. um 55 v. Chr.), einem weiteren antiken Vertreter des Atomismus, stellt sich nicht wirklich ein zufrieden stellendes Gefühl ein, wenn er argumentiert: Wo uns die unendlich lange Zeitspanne vor unserem Leben nicht stört, wieso sollte uns dann die unendlich lange Zeit danach in Unruhe versetzen?
Nun liegt der Unterschied zwischen beiden Zeiträumen nun mal in der zentralen Fähigkeit des Menschen zu erinnern, zu planen, vorauszusehen: Eine nicht bewusste Vergangenheit wird kaum die gleiche Wirkung zeitigen wie die Vorstellung vom antizipierten Ende einer bewussten Gegenwart.
Wie kein anderes – uns bekanntes – Lebewesen lebt der Mensch bewusst in den Kategorien von Zeit, Raum und Kontingenz; zumindest erscheint dies dem Menschen so, wenn er sich mit anderen Arten in Bezug setzt. Die Fähigkeit, zu abstrahieren und aus der dumpf gelebten Zeit ein abstraktes Kontinuum namens „Zeit“ zu konstruieren, stellt den Menschen stets vor den drohenden Abgrund der Vergänglichkeit. Der Tod begleitet ihn wie ein Schatten. So leicht wird er kaum als Illusion zu entlarven sein, wie es Epikurs Wort vermitteln will. Was wäre der Einzelne ohne das ständige Ankämpfen gegen sein eigenes Ende? Welche kulturellen Leistungen haben nicht Völker in ihrer Auseinandersetzung mit dem Tod erbracht? Was wäre das Ägypten der Pharaonen ohne das besessene Streben nach Ewigkeit, nach Überwindung der Sterblichkeit in dieser Welt, durch Einbalsamierung und Pyramiden, durch eine komplette Umgestaltung und Ausrichtung der Gesellschaft auf dieses Ziel hin: Das Weiterleben des Pharaos, um das Wohl Ägyptens zu gewährleisten; wohlgemerkt: das Wohl Ägyptens als Kollektiv, unter weitgehender Übergehung des Einzelnen. Genau diese Formen von Erinnerungskultur sind es jedoch, die der Qur’an kritisiert. Neben der Gesellschaft Fir’auns auch die Zivilisation der nordarabischen Thamud, welche in Felsengräbern ihre eigene Erinnerung zelebrierten: Zwar bin ich bald nicht mehr da, weiß aber jetzt, dass sich dann andere an mich lobend erinnern werden. Wie ein Aufputschmittel scheint die Vorwegnahme des eigenen Todes den Einzelnen zu Höchstleistungen anspornen zu können.
Die Fähigkeit zur Abstrahierung bringt den Menschen dazu, persönliche Erfahrungen in allgemeinen Ideen zu erfassen. Der Skeptiker mag kritisch einwerfen, dass streng genommen die Gewissheit des eigenen Todes nicht aus der allgegenwärtigen Erfahrung abzuleiten sei, dass bis jetzt so viele Individuen gestorben seien. Wer weiß schon, ob diese Erfahrungsregel nicht ihre Ausnahmen haben mag? Könnte nicht wenigstens ich der erste ewig Lebende sein? Wie bei skeptischen Argumenten dieser Art zu erwarten, ist auch dieses nur schwer aus der Welt zu schaffen. Tatsache bleibt, dass kaum jemand sein Leben auf dieser Vermutung aufbauend plant. Im Normalfall wird das Individuum von seinen eigenen Erfahrungen ausgehend, diese auf sich beziehen. Bewusstes Leben ist immer mit dem drohenden Bewusstsein des Sterbenwerdens verbunden.
Auch der Schöpfer nimmt im Qur’an diese zutiefst menschliche Form von Argumentation aufgrund von Erfahrungen auf: Ist nicht Der, der euch ins Dasein gerufen hat, fähig euch wiederzubeleben? Soll etwa die zweite Schöpfung, die Wiederauferstehung, schwerer für Ihn sein, als die erste? So und ähnlich heißt es an zahlreichen Stellen, wo der Gesandte (Friede und Segen auf ihm!) aufgerufen wird, dem Pessimismus des diesseitsfixierten altarabischen Heidentums mit der Verkündung der Hoffnung entgegenzutreten.
2. Lebensführung im Angesicht des Unausweichlichen
Lässt der Gedanke an den Tod das Leben zu einem einzigen Alptraum werden? Kann es überhaupt Lebensfreude geben, wenn das Ende stets inbegriffen ist? Eine wirklich nihilistische Auffassung von Leben, macht diesen Schluss vielleicht unausweichlich. Wer davon ausgeht, dass der gesamte Kosmos nichts anderes als eine kurz aufblühende Orchidee darstellt – vorher nichts und nachher nichts -, der muss den Gedanken an den Tod verdrängen. Wer auch das eigene individuelle Leben in seiner Gesamtheit als sinnlos, weil unverknüpft mit einem Vorher und Nachher begreift, der mag im einzelnen Alltagshandeln kaum mehr erblicken, als was der Qur’an kritisierend herausstellt: Wenn man nicht das ewige Leben, durch bleibende Taten zu sichern versucht, so bleibt nur die Flucht ins Spiel.
„Wisse, nichts ist das diesseitige Leben als Spiel, Ablenkung, Schmuck, Prahlen untereinander und Mehrwollen an Gütern und Nachkommen.“ (57:20)
Wie beim Spiel, das seine Berechtigung nur in künstlich und willkürlich angelegten Regeln findet: „Wenn der schwarze Stein über einen weißen Stein springt, so wird dieser vom Feld genommen; wer als erster all seine Steine abgibt, hat verloren.“ Die Logik des Spiels ist auf sich selbst begrenzt. Eine Auswirkung auf die Realität muss stets konstruiert werden, z. B: Und wer dann keine Steine mehr hat, zahlt dem anderen einen vorher vereinbarten Betrag; oder noch geringer: er darf sich als Sieger des Spiels, und nichts weiter, geehrt fühlen. Wer das Leben auf ein Spiel reduziert, karikiert es, und gibt damit zu, dass es in sich keinen Sinn trägt, außer einem willkürlich verliehenen, virtuellen, von der Realität gelösten.
Aus der Sicht der theistischen Religionen, aber auch vieler Philosophien, wird eine Ausklammerung des Todes als verfehlt betrachtet. Es geht darum, ein Gleichgewicht von Lebensoptimismus und Ernstnehmen des Todes zu finden, auch wenn dies manchem als Quadratur des Kreises erscheinen mag. Solange Philosophie theoretische Erkenntnis in den Dienst einer lebenspraktischen Anleitung stellen wollte, vernahm man von der Antike bis in die Neuzeit den Leitsatz von der Philosophie als „Lehre vom Sterben lernen“. Ausgehend von ihrem jeweiligen Menschenbild unterschieden sich die Philosophien auch in ihrer Herangehensweise an dieses Sterben lernen.
• Bei einem dualistischen Menschenbild (z. B. Plato), bei der niedrige Materie mit dem Geist eine Verbindung eingegangen ist, erscheint der Tod als Befreiung des Seelenfunken von seinen materiellen Fesseln und als Eingangstor in die Welt der ewigen Ideen. Häufig führte dies zu großer Leibfeindlichkeit, asketischen Meisterleistungen, bis hin zu Welthass und einer Verteufelung des Diesseitigen – besonders deutlich in gnostischen Strömungen der Spätantike.
• In eher materialistisch-atomistischen Schulen wird der Tod zu einer Illusion erklärt.
3. Der Wanderer im Schatten
Der Qur’an zeigt einen ausgewogeneren Weg auf. Dieser wird im Vorbild des Propheten verkörpert, der zeigt, dass ein bewusstes Leben im Angesicht der Vergänglichkeit dem Leben seine wahre Würde verleiht. „Wenn ihr wüsstet, was ich weiß, so würdet ihr wenig lachen und viel weinen“ sagte er. Trotzdem hielt ihn dies nicht davon ab, den Menschen um sich herum mit einem Lächeln zu begegnen.
Die positive Annahme des Lebens, auch mit ihren Annehmlichkeit bereitenden materiellen Aspekten wird von vielen Weltanschauungen und religiösen Strömungen verächtlich zurückgewiesen. Offensichtlich in allen Kulturen und Zeiten übte der Gedanke der Weltablehnung und des radikalen Verzichts seine Faszination aus. Muhammad (sallallahu alaihi wa sallam) warnte jedoch stets vor diesem Weg; führt er doch allzu leicht in eine Sackgasse. Der Mensch übernimmt sich, versinkt in tiefstem Pessimismus, scheitert an seinen eigenen überzogenen Ansprüchen und stürzt sich dann enttäuscht von seinem eigenen Scheitern nur allzu bereit wieder in eine Anbetung dieser Welt, sollte er noch die Kraft dazu verspüren.
Der direkte Zusammenhang zwischen einem ausgewogenen Leben und einem ernsthaften und würdevollen Umgang mit dem Tod spiegelt sich deutlich in der Selbstbeschreibung des Propheten, wo er sich mit einem Wanderer vergleicht, der sich kurz unter einem Baum ausruht, um dann weiterzuziehen. So sah er seine Stellung im Diesseits und dies ließ ihn auch würdevoll aus dieser Welt scheiden. Nach einem letzten Blick auf die zum Morgengebet versammelte Gemeinschaft von Madina lag er in den Armen seiner Frau A’ischa (radiyallahu anha) und bestätigte die Worte des Qur’ans: „Wahr ist die Benommenheit des Todes!“ . Mit dem Satz „Zur höchsten Gefährtenschaft (ila r-rafiiqi l-a’laa)!“ schloss er sein Leben ab und nahm damit eine Wendung aus Qur’an 4:69 auf, wo die Personengruppen genannt werden, die ihr Leben in wahrem Erfolg geführt haben: Die Propheten, ihre rechtschaffenen Anhänger und diejenigen, welche im Lichte dieser Wahrheit ihr Leben geschenkt haben (Schuhadaa‘).
4. Weiterleben als moralisches Postulat
Immanuel Kant erteilt dem Versuch, ein Weiterleben nach dem Tod theoretisch beweisen zu können, eine entschiedene Absage. Und doch vollzieht er hier die erstaunliche Wende, genau diese Unsterblichkeit der Seele als Postulat der praktischen Vernunft wieder einzuführen. Ausgangspunkt hierfür ist der kategorische Imperativ, die Grundlage des allgemeinen Sittengesetzes: Es sei immer nur so zu handeln, dass aus unserem Handeln ein allgemeiner Grundsatz – gültig für jedes vernünftige Individuum – abzuleiten sei. Da jedoch dieser hohe moralische Anspruch in der Wirklichkeit nicht immer (oder vielleicht sogar höchst selten) Belohnung erfahren dürfte, da häufig genug der Gerechte schwerste Ungerechtigkeit erleiden und der Verbrecher ungestraft sein Unwesen treiben könne, müsse eine ausgleichende Gerechtigkeit in einer jenseitigen Welt gefordert werden. Aus dem Anspruch sittlicher Vervollkommnung folgt „das praktische Bedürfnis, die Auferstehungslehre für wahr zu halten.“
5. Vom Stehen zum Auferstehen
Wenn erst der Tod dem menschlichen Streben einen letztgültigen Sinn zu verleihen im Stande ist, wenn erst der Tod die Auflösung des Rätsels bringt, wenn nur hier ein Ausgleich der seltsamen Freiheit des Menschen in moralischer Hinsicht zu erwarten ist, dann kann nur er dem Leben wirkliche Handlungssicherheit bieten, so sehr man auch verleitet ist, ihn aus dem Leben drängen zu wollen.
Wenn der Tod alle gleich macht, so nivelliert er auch alle künstlichen durch menschliche Übersteigerung erzeugten Ungleichheiten. Er reduziert die Fülle der Möglichkeiten auf die wirklich sinnvollen und Sinn versprechenden. Wie kein anderes Regulativ lenkt er den Blick auf das Wesentliche, bettet das Leben in einen Gesamtzusammenhang ein und ordnet das gesellschaftliche Handeln. Sämtliche menschlichen Einschätzungen der Wertigkeit von Leben verblassen. Symbolisch gefasst wird dies im zentralen Ritus des islamischen Gebets, am deutlichsten im Gemeinschaftsgebet: Das Stehen (Qiyam) als längster Teil verbindet die aufrechte Haltung als wichtigstes physiologisches Kennzeichen der Gattung Mensch mit seinem Geradestehen vor dem Schöpfer am Tage der Auferstehung (Qiyama) und des Ausgleichs. Wer hier schon gerade steht, den geraden Weg (Sirat mustaqim) einschlägt, der wird auch geradewegs und direkt über die Brücke Sirat im Diesseits gehen und dort gerade stehen ohne einzuknicken. Wer hier lange und intensiv den Tag des „(Auf)Stehens“ vorwegnimmt, wird dort in Leichtigkeit das Stehen quasi „überstehen“. Eine andere Parallele dieser zeitüberschreitenden Symbolik findet sich im Sudschud, der rituellen Niederwerfung: a) Sudschud als Erinnerung an die Niederwerfung des Respekts durch die Engel vor Adam am Anfang der Geschichte – der Beginn der menschlichen Würdigung – und b) Sudschud als Anbetung, Annäherung und Aufwärtsbewegung des Menschen an seinen sich außerhalb von Raum und Zeit befindenden Schöpfer.
6. Das Diktum der technischen Machbarkeit
Mit dem Rückgang von institutionalisierter Religion und sinnstiftenden idealistischen Philosophien geht eine Verdrängung des Todes einher. Friedhöfe werden aus dem pulsierenden Leben der Städte verdrängt, die Erinnerung an den Tod mit einer Reihe von Tabus überzogen. Gleichzeitig steht dem trunkenen Tanz um den Götzen des Lebens eine filmische und literarische Ästhetisierung des Todes, der Zerstörung und Apokalpyse in merkwürdiger Diskrepanz gegenüber. Noch nicht zu überschauen ist der Einschnitt in unser Verständnis vom Tod, welcher durch die Einführung künstlicher lebensverlängernder Maßnahmen vollzogen worden ist. So wie sich auf der Ebene des Lebens ab der Mitte des 20. Jh. Sexualität von Reproduktion im Reagenzglas „emanzipieren konnte“, wurde durch medizinischen Fortschritt das bisherige Herztodkriterium durch das Hirntodkriterium an der Maschine überlagert. Die rastlose Suche nach Ausschöpfung des Lebens hat dem Menschen einen Fortschritt garantiert, der jedoch unheimlich wirkt: Menschen von Maschinen künstlich am Leben erhalten. Die Macht des Todes erscheint – wenn auch nicht besiegt – so jedoch ihrer Eindeutigkeit beraubt.
Tatsächlich entfaltet die Möglichkeit der technischen Lebensverlängerung eine unwiderstehliche Wirkmächtigkeit. Es bleibt das Abwägen zwischen zwei gleichermaßen unmenschlich und würdelos wirkenden Alternativen: einem unschuldigen Leben aufgrund einer von Medizinern getroffenen Entscheidung den Strom abzudrehen oder einen Teil der Vitalfunktionen künstlich in einem Zwischenzustand am „Leben“ zu erhalten. Eine ethisch befriedigende Antwort ist kaum zu erwarten. Stattdessen fordert die Gesellschaft gebieterisch von den Vertretern der Religionen, dass diese quasi auf Abruf legitimierende Gutachten/Fatawa erteilen, die sich in einem vorher abgesteckten Deutungsrahmen zu bewegen haben. Die Frage aufzuwerfen, wie der Lebensdurst des Menschen ihn in diese Zwangslage manövriert hat, scheint jedoch tabu zu sein.
Weitere gruselig wirkende Entwicklungen künden sich an: Die Hoffnung auf Einfrieren des Leichnams in der Annahme, eine Wissenschaftsgeneration der fernen Zukunft könne diese zum Leben erwecken, wenn die Mechanismen der Zellregenerierung entschlüsselt seien. Das Absurde bei diesen Vorstellungen, mit denen hier und da bereits Unternehmen aufgebaut werden, bleibt, dass wohl niemand ernsthaft ein mehrere Hundert Jahre dauerndes Leben im selben Körper anstreben kann.
Soll ein Individuum etwa erleben, wie Dutzende Generationen an ihm vorbeiziehen, und die Generation seines Geburtsjahrgangs immer mehr ausstirbt, weil bei ihnen die Geldbörse zu schmal für eine weitere Lebensverlängerung ist? Wie würde eine solche Regenerierung des Lebens ausschauen? Befände sich nach Austausch aller Organe noch die gleiche Persönlichkeit in den wechselnden Gewändern des Körpers? Müssen im regelmäßig generalüberholten Körper irgendwann auch die Erinnerungen gelöscht werden, um die Schalheit des Lebens erträglicher zu machen, wenn die Anziehungskraft des Neuen erloschen ist? Müssen Persönlichkeitsmerkmale adaptiert und modifiziert werden, um dem drohenden Lebensüberdruss zu entkommen? Muss ein Übermaß an Weisheit des Alters reguliert werden, damit Jugendliche Unbeschwertheit und Abenteuersinn wieder neue Impulse liefern? Sollte der Einzelne die Unsterblichkeit im Diesseits erlangt haben, könnte er noch nach etwas streben, könnte er noch einem Ziel hinterherlaufen, wenn er doch vor sich eine schier unendliche Lebensspanne wähnt? Wenn alles seinen Wert erst durch drohende Knappheit zu finden scheint, können dann Zeit und Möglichkeiten der Lebensplanung noch etwas bedeuten, wenn diese im Überfluss vorliegen? Offensichtlich scheint erst die Sterblichkeit das Leben knapp, erstrebenswert und wertgeladen zu machen.
7. Verdrängung und Entwürdigung
Die Vergötzung des Lebens droht sich ihrer eigenen humanistischen Grundlage zu entledigen. Bedingt durch den – wohlgemerkt vom Menschen eingeleiteten und nicht wie ein Naturereignis über ihn eingebrochenen – medizinischen Fortschritt, kündigen sich hier ethische Umwälzungen ungeahnten Ausmaßes an. Dieses Ringen um eine Neudefinition des Lebens zeigt sich vielleicht am deutlichsten bei dem australischen Ethiker und Philosophen Peter Singer (geb. 1946). Als Kriterien für einen besonderen Schutz und Privilegierung von Leben bieten sich ihm mögliche Schmerzempfindung, Leidensfähigkeit und grundlegende Formen eines Selbstbewusstseins an. Sollten sich Ansätze dieser Empfindungen nicht nur bei Menschenaffen, sondern auch bei anderen Tierarten erhärten lassen, so drängt sich die ethische Folgerung auf, diesen einen dem Schutz menschlichen Lebens vergleichbaren Schutz angedeihen zu lassen. Dieser aus dem Utilitarismus erwachsenen relativierenden Sicht auf den Menschen steht die religiöse Auffassung von der besonderen Würde des Menschen entgegen. Singers Ansatz wirkt daher in zwei Richtungen: Während manche Tierarten – unter der Voraussetzung der Annahme individueller Gefühle und Bewusstseinszustände – „erhoben“ werden, könnten die Rechte mancher weniger privilegierten Menschen beschnitten werden! So gewagt dies klingen mag, Singers Ausführungen lassen kaum eine andere Interpretation zu, als dass der Begriff von „lebensunwertem Leben“ unter geschicktem Rekurs auf Tierrechte quasi durch die Hintertür wieder salonfähig gemacht werden soll: „Befreit von den Beschränkungen durch die religiöse Konformität, haben wir jetzt eine neue Vorstellung davon, wer wir sind, mit wem wir verwandt sind, wie gering die Unterschiede zwischen uns und anderen Arten sind und von der mehr oder weniger zufälligen Entstehungsweise der Grenze zwischen „uns “ und „ihnen“. Die Annahme dieser neuen Einsicht wird die Art, wie wir ethische Entscheidungen über Wesen treffen, die zwar leben und zu unserer Spezies gehören, denen aber die Fähigkeiten fehlen, die manche Mitglieder anderer Spezies besitzen, für immer verändern.“ Und hier der entscheidende Satz, um behinderten Menschen zentrale Rechte abzusprechen: „Warum sollten wir das Leben eines anenzephalen Kindes als sakrosankt ansehen, uns aber zur Tötung gesunder Paviane berechtigt fühlen, um ihre Organe zu verwerten? Warum sollten wir Schimpansen in Laborkäfige sperren und mit tödlichen menschlichen Krankheiten infizieren, wenn wir die Vorstellung von Experimenten mit behinderten Menschen verabscheuen, deren geistige Fähigkeiten denen der Schimpansen entsprechen? Die neue Sicht läßt keinen Raum für die üblichen Antworten auf diese Fragen: daß wir Menschen eine besondere Schöpfung seien und allein um unseres Menschseins willen unendlich viel wertvoller als jedes andere Lebewesen. (…) Dieser Revision wird jede Ethik zum Opfer fallen müssen, die auf der Vorstellung beruht, wirklich entscheidend sei, ob ein Wesen ein Mensch ist. Das wird dramatische Auswirkungen nicht nur für unsere Beziehungen zu nichtmenschlichen Tieren haben, sondern für die gesamte traditionelle Ethik der Heiligkeit des Lebens. Denn wenn wir erst einmal von der Annahme abrücken, daß von allen Tieren nur der Mensch eine Art Recht auf Leben hat, dann müssen wir anfangen, nach den Eigenschaften und Fähigkeiten zu fragen, die ein Tier haben muß, um dieses Recht zu besitzen. Wenn wir das tun, werden wir aber sofern wir dieses Kriterium irgendwo oberhalb des bloßen Lebendigseins ansetzen, die Feststellung nicht umgehen können, daß einige menschliche Wesen dieses Kriterium nicht erfüllen. Dann wird es sehr schwierig werden, weiterhin den Standpunkt zu vertreten, diese Menschen hätten ein Lebensrecht, und dieses Recht gleichzeitig Tieren mit gleichen oder höheren Eigenschaften und Fähigkeiten abzusprechen.“ Anlass zu Hoffnung gibt die Tatsache, dass Singers Thesen in vielen Ländern keineswegs schulterzuckend hingenommen werden. Immer wieder kam es zu Protesten gegen öffentliche Auftritte. Gerade in Deutschland fühlt man sich zu sehr an das NS-Menschenbild von Euthanasie-Programmen erinnert. So wie der Mensch, der sich seine eigenen Götzen schnitzt, irgendwann einmal dazu getrieben wird, seine eigenen Kinder diesem Götzen zu opfern, so treibt auch der Kult um ein Leben unter Ausklammerung des Todes den Menschen erst in diesen Tod. Droht etwa am Ende der einzelne – benachteiligte – Mensch zu einem Ersatzteillager für andere Menschen zu werden, denen eine Kaste von Medizinern höhere Daseinsberechtigung zugesprochen hat? Auch der Götzenbauer hatte sich einmal in Freiheit an sein Werk gemacht, hatte sich andauernden Segen und Fortleben im Diesseits erhofft, bis ihm letztendlich dieser Segen geopfert werden musste. Bis der Götze ihn einschüchterte, bedrohte und ihm seinen letzten Rest an Würde nahm. Wer über die göttlich geschenkte Würde wie ein Konsumgut verfügen will, dem wird sie offensichtlich nicht lange erhalten bleiben.
Literatur: Brumlik, Micha: Die Gnostiker: Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen. Frankfurt a. Main 1992. Cave, Stephen: Unsterblich: Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben als Triebkraft unserer Zivilisation. Frankfurt a. Main 2012. Singer, Peter: Leben und Tod: Der Zusammenbruch der traditionellen Ethik. Erlangen 1998. Wittwer, Hector: Philosophie des Todes. Stuttgart 2009.
Ein Kommentar
Perfekt auf den Punkt gebracht. Was Mensch sich wünscht, von einem selbsterdachtem allmächtigen, führt dazu dass mindestens der Wunsch geopfert wird für die Geister, die gerufen wurden.
Als würde der Mensch durch nachgeahmten hochmütigen Trotzes des Teufels, das endliche Leben wegdiskutieren können. Nach dem Motto was ich nicht einsehe, erkenne ich nicht an.
Vielen Dank für den wundervollen Artikel.