Befreiung von Religion – Befreiung durch Religion?

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Religion und Befreiung? Wie sich das Verhältnis zwischen den beiden Begriffen gestaltet, wird wahrscheinlich kontrovers beantwortet werden, solange es Menschen gibt. Für den einen reicht ein Blick auf religiöse Riten, um von Versklavung zu sprechen: Neigt sich der Mensch – beispielsweise im Islam – nicht mit der Stirn auf den Boden? Versklavt sich der Mensch hier nicht einer – noch dazu unbekannten – Macht? Obendrein werden ihm aus einer unbekannten Welt Normen und Gebote diktiert. Ist das nicht alles genau das Gegenteil von Freiheit?

Die Religionen selbst drehen diese Sichtweise herum: Mit der Hingabe an den Einen und Unvergleichlichen erlangt man die Unabhängigkeit von der materiellen Welt. Vielleicht nicht in vollständigem Maße, doch der Druck dieser Welt wird relativiert. Je mehr du dich Demjenigen hingibst, der diese Welt nicht braucht, desto mehr erhebst du dich aus den Verstrickungen des Diesseits. So zumindest die theoretische Antwort auf islamischer Seite.

Auch im Christentum gab und gibt es Lesearten, die unter dem Stichwort Befreiungstheologie zusammengefasst werden. Gemeinsamer Nenner ist, dass für sie Religion eine konkrete Veränderung in der Sozial- und Wirtschaftsstruktur bewirken muss. Hierzu einige Stichwörter aus einer faszinierenden Zeit der Umbrüche; aus dem Lateinamerika der 50er und 60er Jahre. In diesen Jahrzehnten war der Kontinent geprägt von gewaltigen sozialen Veränderungen: Neue Produktionsmethoden, entsprechende Landflucht, das unaufhaltsam wirkende Anschwellen der Großstädte und ihrer Slums. Die Gesellschaft driftet auseinander: Schichten und Klassen trennen sich zunehmend: geographisch, lebensstilorientiert und ideologisch. Die verbarrikadierten Luxusviertel haben ihre Entsprechung in der Sozialstruktur: Gesellschaftliche Klassen, welche mit den Konkurrenten nicht mehr kommunizieren können und wollen. Soziale Sprachlosigkeit. Der bittere Kreislauf von Entfremdung, Hass und gegenseitiger Schuldzuschreibung.

Lateinamerika: Katholische Befreiungstheologie

In diesen Jahrzehnten des Kalten Krieges greifen die Versprechungen sozialistischer und linksradikaler Bewegungen: Die Entwurzelten am Rande der Stadt, welche mit Religion kaum noch etwas anfangen können, weil die Kirche sie nicht mehr erreicht, erkennen in der bürgerlichen Gesellschaft ihren Feind. Guerilleros greifen zur Waffe. Diese Bedrohung stabilisiert die Zweckkoalition aus rechtskonservativen/rechtsradikalen Regierungen und Bürgertum flankiert von einer mächtigen Kirche. In dieser verfahren erscheinenden Situation kommt es zu radikal neuen Denkansätzen in der katholischen Kirche. Nicht mehr das Hierarchische – „Kirche von oben“ – soll Religion ausmachen, sondern die „Kirche von unten“. Wer sich als wahrer Nachfolger Jesu Christi betrachtet, sollte in seinem Leben Ernst machen: zu den Armen gehen, zu den Entrechteten, Ausgestoßenen und Hoffnungslosen in den Slums. Überzeugung müsse sich in Opferbereitschaft äußern und nicht in theoretischen theologischen Abhandlungen und leblosen Riten.

Gegen diesen frischen Wind stellt sich weiterhin eine politisch und wirtschaftlich mächtige Kirche, denen die Befreiungstheologen nun vorwerfen, mithilfe der Religion soziale Ungerechtigkeit zu legitimieren. Um es auf den Punkt zu bringen: Geht es darum, im prächtigem Ornat in einer gewaltigen Kathedrale davon zu predigen, dass Jesus zu den Armen gegangen sei oder geht es darum, selbst diesen Schritt zu wagen? Geboren war der Slogan „die Option für die Armen“. Seit 1968 mahnen Kirchenvertreter eine “Kirche für die Armen“ an. Keine harmlose Forderung. In Lateinamerika lebensgefährlich. Die Polarisierung wird hitziger. Revolutionäre Priester werden ermordet.

Die Fronten verhärten sich im Windschatten des Kalten Kriegs. Offizielle Kirchenkreise warfen den Befreiungstheologen neomarxistische Ketzerei und bewusste Unterwanderungsversuche vor. Diese Diffamierungen provozierten andere Befreiungstheologen, nun erst recht den Schulterschluss mit marxistischen Bewegungen zu suchen. Das theoretische Misstrauen gegen Religion als Ausbeutungslegitimierung war nunmehr real geworden: Kirchenvertreter, die Exkommunikation androhen und auf bekannte Mechanismen der Angstmache zurückgreifen, weil sie ihren angenehmen ersten Platz an der Spitze der Gesellschaft (neben Militärs und Folter-Diktatoren) nicht aufgeben wollen.

Vom Diesseits ins Jenseits und wieder zurück

Soll Religion eine Veränderung der diesseitigen sozialen Umstände bewirken oder ist sie allein für das Jenseits zuständig? Die Diskussion ist komplex, wird jedoch häufig mit pauschalen gegenseitigen Schuldzuschreibungen geführt. Für die Seite, welche Religion als eine Befreiung des Menschen im Diesseits ansieht, erscheint der Jenseitsbezug vorschnell als billige Masche der Vertröstung. Marxistisch gesprochen als Opium für das Volk. Der Jenseitsbezug würde nach dieser Deutung als probates Mittel eingesetzt, die Massen zu beruhigen. „Hier musst du zwar leiden, aber wenn du Geduld zeigst und dich den Oberen beugst (dass sie dich ausbeuten, braucht dich gar nicht zu interessieren), wirst du im Jenseits Befreiung und Erlösung erlangen.“

Doch ist dies wirklich so einfach? Und was bliebe für die Religion, wenn die Überzeugung von Jenseits und einer Welt des Verborgenen durch sozialistische Argumentationsmuster ersetzt würde? Für andere Lesarten erscheint es umgekehrt: Verliert der Mensch seinen Jenseitsbezug, so verstrickt er sich in die diesseitigen Kämpfe der Klassen und sozialen Schichten, welche um wirtschaftliche Ressourcen und politischen Einfluss konkurrieren. Um in islamischen Begriffen zu sprechen: Der Kreislauf der Dunya, befeuert von Neid und Hass, kommt so erst richtig ins Rollen. Wenn der Mensch das Jenseits vergisst, so verliert er ebenso auch diese Welt.

Für den Islam bleibt der Bezug zur Achirah an oberster Stelle. Doch nicht im Sinne einer Vertröstung, welche die Menschen abhalten soll, nach Gerechtigkeit und einem würdevollen Leben im Diesseits zu streben. Entscheidend sind Perspektive und Ausrichtung: Je mehr der Blick auf die jenseitige Dimension gelegt wird, desto mehr erkennt der Mensch die Folgen seines Handelns bereits in dieser Welt. Und genau dies sollte ihm die Kraft geben, sich hier und jetzt für Gerechtigkeit und Menschenwürde einzusetzen.

Klar, dass in jeder Religion die Verführung lauert, den Jenseitsbezug zur Kontrolle der Gesellschaft einzusetzen. Gespielt wird hier mit den Gefühlen der religiösen Massen: „Weltliches ist doch nur vergänglich, gebt es mir. Euer Geld könnt ihr sicher bei mir investieren, damit ich eine Kirche/Moschee errichte, in der wir dann die Nutzlosigkeit von Reichtum predigen.“ Oder auch: „Verschafft mir ein sicheres Gehalt und einen festen Arbeitsplatz, damit ich die seligmachende Aufgabe übernehme, euch von Geduld und Leidensfähigkeit in dieser Welt zu erzählen.“ Dass ein solcher Missbrauch von Religion der härteste Schlag ist, der überhaupt gegen Religion geführt werden kann, dürfte auf der Hand liegen. Atheismus und Religionsfeindlichkeit fallen nicht vom Himmel. Sie werden genährt von enttäuschenden Erfahrungen. Es sind Menschen, welche zynisch und perfide religiöse Gefühle missbrauchen, welche die Religion als unglaubhaft und ausbeuterisch erscheinen lassen.

Yankee-Religiosität: Erfolg als göttliche Auserwähltheit

Zurück zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie. In den 80er Jahren verkompliziert sich die Lage. Immer stärker mischen sich die USA unter Reagan ein. Sie finanzieren korrupte Militärregierungen, Konterguerillas und schmutzige Kriege gegen neu etablierte linksorientierte Regierungen. Und erneut kommt die Religion ins Spiel. Wenn Menschen das Befreiende ihrer Religion begreifen wollen – und das tat nun mal die Befreiungstheologie ungeachtet all ihrer Schwächen und inneren Widersprüche –, dann werden die Kräfte des Status quo und die Nutznießer des Systems auf andere religiöse Angebote setzen. Diese lagen vor in Form religiöser Bewegungen und Sekten aus Nordamerika. Dort florierten seit langem, unzertrennbar mit dem amerikanischen Mythos der Befreiung durch Aufstieg und Wohlstand verbunden, evangelikale Strömungen, welche einen anderen Blick auf Befreiung versprachen. In aller polemischen Kürze zusammengefasst: „Deine soziale Lage ist desolat, solange du dich nicht von deiner Sünde befreist.“ Befreiung wird hier als individuelles Anliegen und losgelöst vom sozialen Kontext sozial gepredigt. Der Einzelne solle auf sich selbst schauen, und Gott würde ihm sein diesseitiges Los verbessern. Entsprechend seien Wohlstand und sozialer Aufstieg als Zeichen der göttlichen Gnade und Auserwählung zu werten. Die Suche nach kollektiver Befreiung aus systemischer Ausbeutung und Unterdrückung wäre damit ein Frevel gegen die Schöpfungsordnung; Befreiungstheologie wäre Rebellion gegen den Willen Gottes.

Damit schließt sich der Kreis: Die Politik der USA förderte dieses Sektenwachstum in Südamerika, um der Befreiungstheologie ideologisch das Feld streitig zu machen und ebenso um Südamerika als Hinterhof der eigenen wirtschaftlichen Interessen in Abhängigkeit zu halten. Entsprechend verstärkte dies die Radikalisierung auf der anderen Seite. Das Feindbild „politisches Establishment + Religion“ war nunmehr um den Faktor „zigarrenrauchender Yankee-Kapitalist“ erweitert.

Befreiungstheologie – was bleibt?

Mit dem Ende des Kalten Krieges geriet die Debatte um die Befreiungstheologie notwendigerweise in den Hintergrund. Weniger auffällig ist sie nun. In die Jahre gekommen. Teilweise aufgehübscht, in gediegenem akademischen Ambiente. Die Gefahr droht nun, in die gleiche Falle zu tappen: Statt Befreiungstheologie zu leben, sitzt man lieber in geschützten Räumen, um über Befreiungstheologie zu theoretisieren. Doch war dies nicht der Hauptvorwurf der engagierten Priester, welche sich ihrer Amtskleidung entledigten und den Schritt in die Slums wagten, um mit den Unterprivilegierten ihr Schicksal zu teilen?

Faszinierend menschlich: Der Mensch bleibt ein widersprüchliches Wesen, das es nur im seltensten Fall schafft, Wissen und Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Wie schnell geht es, dass man auf Kosten des Handelns das Wissen in den Vordergrund rückt. Bestehen bleibt der Anspruch der Religion, dass ein tiefer Blick auf die eigentlich wichtige Frage dieser Welt – wer ist dein Herr und wie kommst du Ihm näher – auch eine Veränderung im Diesseits bewirken soll. Religion bleibt der Weg zur Befreiung, auch wenn die tatsächlich vorgelebte Religiosität vielerorts das Gegenteil suggeriert.

Bildnachweis: https://www.pacifica.edu/degree-program/community-liberation-ecopsychology/liberation-psychology/

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Studium der Übersetzungswissenschaft, Islamkunde, Soziologie und allgemeinen Religionswissenschaft.

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für die wunderbaren Ausführungen. Allah braucht uns nicht aber wir brauchen ihn er hat sich Eigenschaften zugeschrieben und gewisse Dinge erfüllen sich wie Gesetzesmäßigkeiten immer wieder (sunnatullahe fil khalq). Der Mensch kann interaktiv durch Bittgebete sein individuelles Schicksal teilweise aufheben bzw ändern. Also: durch Verinnerlichung der tatsächlichen Bewirkungsgrades kann im Diesseits aktiv gelebt und füt das Jenseits durch salehat gut investiert werden. Die bittere Pille eines Daseins jetzt ruhig und untätig zu schlucken mit dem Wahn im Jenseits wird alles besser, ist keine Option. Daher ist das Wissen über den Islam an sich eine Befreiung der eingeschränkten Grenzen, derjenigen die auswegslos sind.

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