EIN PLÄDOYER
Autor: Tina Eberhardt
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist das Staunen über die Worte. Ich dachte: „Seltsam, das ist also ein Hemd, ein Buch, eine Blume, ein Topf.“ Wahrscheinlich habe ich das nicht wirklich so gedacht, wörtlich. Doch in meiner Erinnerung fühlt es sich so an. Jedes Wort hatte ein Gewicht und es wog schwerer als das Ding dahinter. Vielleicht heißt das, dass die Welt meiner Kindheit nicht schön genug war. Vielleicht heißt es, dass das abstrakte Denken stärker ist als der Realitätssinn, und dass das die wesentliche Voraussetzung ist für den Spracherwerb. Dass die Sprache das Ende des Lebens im Augenblick ist. Der Mensch erschafft sich selbst – in und mit der Sprache. Das Wort wird zur Idee, wird Bild. Die Welt ist das Bild, das wir durch die Augen der Sprache sehen.
Nehmen wir den Frühling, diesen unendlich sanften Aufschrei aller Farben. Der – fortschreitend – in der Bewegungslosigkeit eines Sommernachmittags gipfelt. Ein gellender, spitzer, jetzt auch grausamer, Schrei. Dazu das Flimmern der Ewigkeit in der Luft. (Für das es ganz gewiss eine physikalische Erklärung gibt. Aber: In solchen Momenten? Wen kümmert das schon?) Was wäre all das ohne das Wissen um die unzähligen Gedichte, die über den Frühling geschrieben wurden? Was ohne das Wissen um die Vergänglichkeit? Denn Sprache heißt auch: Wissen um den Tod.
Ich möchte jetzt ein großes und in der Ideengeschichte scheinbar so bedeutsames Wort umkehren: Nichts ist sinnlos, wenn man an den Tod denkt. Denn das dem Moment zugedachte: „Verweile doch, du bist so schön“ bedarf genau jenes Wissens. In der Vergänglichkeit öffnet sich das Tor zum Unendlichen, sie gebiert das Absolute (was auch immer man darunter verstehen mag).
Was auch immer man darunter verstehen mag: das Absolute ist nicht beliebig. Ihm wohnt eine Kraft, ein Streben, vielleicht auch das, was hinter einem so ausgeschlachteten und fast schon schal gewordenem Wort, wie Sehnsucht steht, inne. Es ist die Suche nach dem Sinn. Und kann also nicht die Suche nach dem Sinnersatz sein.
Fast schäme ich mich, über diese Dinge zu schreiben. Es kommt mir vor, wie die Weigerung Land auf dem Boden des Profanen zu gewinnen. Aber zwischen den Wirklichkeiten, auf dem Weg, wenn Brel mir aus dem Autoradio sein „Telle est ma quête!“ entgegen schmettert, weiß ich, es wird immer auch meine Suche sein. Denn es ist die Erinnerung an diese Kraft, die sich im Alltag zunehmend zu verlieren droht, die mein Lebensgefühl birgt.
Wir leben in einer Welt, in der Hierarchien geleugnet werden, und frönen dabei der Beliebigkeit. Fast scheint es, als würden wir die Tatsache, dass unsere Demokratien brüchig geworden sind, übertünchen wollen, indem wir den ideellen Wert einer Handlung oder auch nur eines Gedankens im Einerlei einer politischen Korrektheit, und einer fulminanten Verwechslung von „Alle“ und „Alles“ vermischen.
Darunter leidet auch die Sprache. Denn sie verkommt zur Farce. Eine bedachte Sprachverwendung klingt wie Pedanterie. Das Ringen um Worte: Elfenbeinturm. Die Tür zu einer oszillierenden Erkenntnis dessen, was uns ausmacht, fällt zu. Wir leben, um uns zu zerstreuen. Wer aber zerstreut ist, der mag zwar im Augenblick leben, er nimmt ihn aber nicht mit (vergisst das „Verweile doch…“). Und verliert dabei seine Identität. Denn Identität ist genau das: Erinnerung.
Nehmen wir Proust, den Meister auf diesem Gebiet. Was wäre der vielleicht schönste Buchtitel aller Zeiten „À l’ombre de jeunes filles en fleur“ (Im Schatten junger Mädchenblüte) ohne die Erinnerung an Swanns (enttäuschte) Liebe zu Odette, die der Protagonist, Kind noch, bezeugen durfte, indem er sie beobachtend mit erahnte, als eine gekonnt poetisch anmutende Anhäufung von Worten, die viel über die Pracht des Lebens, aber nichts über die Zweifel und Ängste des Protagonisten aussagte? Was wäre er ohne unsere Erinnerung an die erwach(s)enden Sinne? Was wäre ich ohne die Erinnerung an mein Staunen über die Worte?
Ich möchte hier noch ein paar Worte verlieren, über eine Aneinanderreihung von Worten, die fast schon den Stellenwert eines Gemeinplatzes haben. Man könnte sich versucht fühlen – und ich tue es – hierzu Flaubert zu persiflieren: „Das Schöne, Wahre und Gute“ benennen und dabei behelfs des Augapfels im linken Winkel beginnend eine kreisförmige Bewegung vollführen, und nicht zu vergessen den Blick für einen kurzen Moment auf einem Argumentationskontrahenten ruhen zu lassen und dabei wohlwollend das freundliche Kompositum „Gutmensch“ zu hauchen. Der beste Gutmensch der Literaturgeschichte ist der Erzähler der „Wahlverwandtschaften“. Ich habe kein anderes Buch gelesen, in dem ein so milder und verständnisvoller Blick – bei aller schuldhaften Verstrickung – auf den Figuren ruhte. Leider gab und gibt es diesen Menschen nicht. Aber vielleicht bemüht sich gerade einer genau so zu sein, weil er dieses Buch gelesen hat. Im Internet, dem Pranger des Informationszeitalters, wo man sich, sobald ein „Schuldiger“ ausfindig gemacht wurde, im Kollektiv Gewaltphantasien hingeben kann, würde man diesen Menschen gewiss einen Apologeten nennen, und ihm alle Kinderschänder der Welt in die Gasse wünschen.
Das Schöne, Wahre und Gute vermag kein Unglück zu verhindern – Ottilie stirbt (trotz der Bemühung aller Beteiligten korrekt zu handeln). Aber es stimmt nicht, dass das Wahre, wie vielfach behauptet, im Widerspruch zum Schönen und Guten steht. Zwar scheitern die Figuren in ihrem Bestreben nach dem Guten und Schönen am Wahren – den Wahlverwandtschaften, die – als Modell für die Geschehnisse im Roman – auch in chemischen Verbindungen eingegangen werden (Chemiker werden sich bei dieser hanebüchenen Erklärung vermutlich eines Aufschreis nicht entwehren können, ich hoffe aber, dass auch sie Goethe zugestehen können Kenntnis über den seinerzeitigen state of the art gehabt zu haben). Der Erzähler jedoch scheitert nicht daran, für ihn wird das Wahre zum Schönen und Guten. Der Gegensatz wird aufgelöst – in seiner Haltung.
In einer Welt, in der der Ruf nach Reglementierung und Restriktionen um einer scheinbaren Sicherheit willen immer lauter wird, und diesem auch in einem gnadenlosen circulus vitiosus zunehmend Folge geleistet wird, in der maximale Rücksichtnahme mit dem Befolgen von Gesetzen und Vorschriften gleichgesetzt wird, brauchen wir genau das – Menschen mit Haltung. Und Haltung kann nur haben, wer eine Identität gefunden hat, die nicht allein im Gemeinschaftserlebnis aufgeht. Sie kommt vom Willen zum Höheren, vom Nachdenken – vom Operieren mit Worten.