Das eigene Ich!

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EIN ERFAHRUNGSBERICHT
Autor Rita Soliman

Früher dachte ich, die Antwort auf die Frage der Identität einer Person stünde in ihrem Pass. Name, Geburtstag, Staatsbürgerschaft und ein Foto. Schließlich wurde man ja auch genau danach gefragt. Wenn Eltern von KindergartenfreundInnen wissen wollten wer ich war, fragten sie mich nach meinem Namen, meinem Alter und nach meinen Eltern. Wenn ich diese Fragen beantwortet hatte war ich also Rita. Wenige Jahre später tauchten die beliebten Freundschaftsbücher auf. Jeder war sehr stolz darauf eines in die Hand bekommen zu haben um sich darin einzutragen. Sie schafften die Möglichkeit der Eigenreflexion und der Präsentation des eigenen Ichs, was nicht immer das gleiche Ergebnis mit sich brachte. Denn wenn man darüber nachdachte welche Hobbys man hatte, waren unter den Antworten auch fernsehen, schlafen und in der Nase bohren vertreten. Das schrieb man natürlich nicht hin. Auf die Seiten kamen die wirklich coolen Dinge wie Fußball spielen, lesen und zeichnen. Dann schaute man noch auf die bereits beschriebenen Seiten, um ja nichts Wichtiges zu vergessen. Außer der Hobbyfrage gab es noch die nach der Lieblingsfarbe, dem Lieblingsessen und dem Lieblingstier, zum Angeben. Und zu guter Letzt natürlich noch einen Platz für ein Foto. Hatte man das alles ausgefüllt, sagte diese Seite aus wer Rita war. Weitere Jahre vergingen und man wurde nach der Lieblingsband und dem Lieblingsschauspieler gefragt und natürlich wohin man abends fort ging.

Als diese schöne und unbeschwerte Zeit zu Ende ging, tauchte eine wirklich interessante Frage auf. „Woher kommst du eigentlich?“ Diese so bedeutsam scheinende Frage eröffnete eine Dimension von weiteren Informationen über das eigene Ich. Jetzt schien es als ob das Essen, das man aß, die Musik, die man hörte und die Sprache, die man sprach, zu den Eigenschaften wurden, die einen ausmachten. Man beantwortete diese Fragen und dachte selber darüber nach, ob es wirklich so viel ausmachte aus welchem Land man kam, bzw. woher die Eltern stammten. Irgendwann wurde man so beschrieben. Die Rita kommt aus Syrien und Ägypten, ihre Mutter macht super gutes Hummus und sie hört immer so einen Sänger namens Amr Diab. Das waren die Informationen, die ich ihnen gegeben hatte. Dazu gereimt hatten sie sich, dass meine Eltern streng waren und ich nicht mit Jungs reden durfte, DENN ich war ja eindeutig Muslimin. Also nicht nur, dass sie für alle Moslems dieser Welt entschieden hatten, wie sie ihre Kinder erzogen, bzw. wie ihre Wertvorstellungen aussahen, nein, sie hatten auch entschieden, dass ich unmöglich eine Christin sein könnte. Als ich sie diesbezüglich aufklärte, reagierten die meisten erst ungläubig, doch dann sagten sie: „Naja, ist bei dir ja trotzdem noch alles ein bisschen anders!“ Es stimmte, es war bei mir anders als bei meinen Mitschülern. Ich durfte Vieles das meine Mitschüler nicht durften, und musste Einiges machen wovon sie befreit waren. Meine Eltern waren jedoch nicht so streng wie die anderer Orientalen.

Eine lange Zeit war es egal wie die Wahrheit tatsächlich aussah, was ich dachte, was mir die Gesellschaft sagte, oder wie sie mich behandelte. Je nach Kontinent änderte sich das. In Europa war ich die orientalische Migrantin, in Ägypten die Halb-Europäerin mit der syrischen Mutter und in Syrien umgekehrt. „Wonach fühlst du dich mehr? Wo gehörst du hin?“ Ich fing an zu denken, dass genau dies mich beschrieb. Heute denke ich, dass es einen großen Einfluss auf mich hatte. Ich nahm die verschiedensten Gedanken und Wertvorstellungen aus beiden Kulturen an. Spreche beide Sprachen, und verstehe mich mit beiden Völkern gut. Aber ist nicht genau hier der Widerspruch? Ich nahm aus Beidem was ich wollte. Ob bewusst oder nicht spielt keine Rolle. Genauso nahm ich aber auch Dinge aus anderen Kulturen mit. Aus Ländern in denen ich gereist war, oder von Migrant/Innen anderer Herkunft. Wo liegt dann der Unterschied zu Nicht-MigrantInnen? Es gibt kaum ein Land auf der Welt, in dem nicht unterschiedlichen Kulturen vertreten sind. Viele Menschen reisen oder lesen auch nur über ferne Länder, sehen sie im Fernsehen oder gehen zu Vorträgen darüber. Also werden auch sie beeinflusst und haben die Möglichkeit sich aus anderen Ländern und Kulturen Werte, Gedanken und gutes Essen mit zu nehmen.

Kommen wir zurück zur Religion. Auch wenn viele Menschen die Tradition, als eigene Art der Religion betrachten, bleibe ich jetzt bei der spirituellen Variante. Wenn man die drei Buchreligionen betrachtet, sollte jeder gläubige, religiöse Mensch sich an die Gebote halten und danach leben. Also würde man annehmen, dass jede/r ChristIn wie die/der Andere lebt, usw. im Islam und im Judentum. Doch die Realität sieht anders aus. Der beste Beweis dafür ist die Spaltung aller drei Religionen in Orthodoxe, Schiiten usw.. Unterschiedliche Interpretationen der Religion, nimmt man oft als Grund für die Spaltung der Religionen. Dies zeigt, dass sich das Ich eines Menschen egal welche Vorlage er bekommt doch durchsetzt. Da unsere Ichs, Gott sei Dank, unterschiedlicher Natur sind, erschließt sich einem das Wesen eines bestimmten Individuums nicht allein durch die Feststellung seiner ethnischen Herkunft. Nimmt man einen Inder der Moslem ist, so sind doch seine Wertvorstellungen anders als die eines Inders der praktizierender Hindu ist. Nimmt man aber einen amerikanischen Christen und eine libysche Muslima so könnten die Gemeinsamkeiten von unermesslicher Größe sein.

In Wahrheit gibt es ein Alter, das bei jedem individuell ansetzt, in dem der Mensch anfängt für sich selbst zu entscheiden. Ein Alter in dem es das Ich nicht mehr aushält nur oberflächliche Einschränkungen zu akzeptieren, sondern heraus will – und zwar um jeden Preis. Lässt man das Ich frei und gibt ihm dadurch die Möglichkeit die Person zu leiten, so erhalten wir als Ergebnis eine wunderschöne, bunte Welt voller Neuheiten. Beschränkt man sich jedoch auf die Oberflächlichkeit, die einem die Gesellschaft aufzwingt, so erhält man nichts anderes, als eine Welt, die unter der Diktatur der Gesellschaft leidet. Wie uns die Geschichte beweist, werden hier selbst denkende Individuen meist bestraft, oder zum Schweigen gebracht, ein Phänomen, das wir nicht auf die gesamte Welt übertragen sollten.

Hier möchte ich erklären, dass ich weder Tradition noch Religion als Oberflächlichkeit betrachte, sondern die bloße Reduktion des Ichs auf diese. Als arabische und religiöse Christin habe auch ich die Traditionen dieser Welt beigebracht bekommen und habe vieles davon auch lieben und respektieren gelernt, jedoch ist die Tatsache meiner Herkunft und meine Religionszugehörigkeit nicht allein mein komplettes Ich. Die Liste der Einschränkungsmöglichkeiten läuft endlos weiter. Für die Modewelt ist es die Kleidung, die, man trägt, die einen ausmacht. Für die Lebensmittelindustrie gilt der Spruch „Du bist, was du isst!“. Aber warum kann man nicht sagen, dies alles sind Teile des Ichs.

Am schönsten wäre es doch in der gewaltig großen Verschiedenheit unserer Ichs, die Gemeinsamkeiten zu entdecken, die uns vereinen können, anstatt welche erzwingen zu wollen, um dem Unbekannten aus dem Weg zu gehen.

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About Author

Studentin der Soziologie und der Internationalen Entwicklung an der Universität Wien, Organisatorin der Jugendarbeit im Verein für Arabische Frauen Wien

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