Ein Interview mit Karam Khella, Historiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker zu seinem neu erschienenen Buch „Der Philosophenstreit“.
Die Fragen stellte Hubert Krammer
Von dir ist ja vor einigen Jahren die „Arabische und Islamische Philosophie“ erschienen. Was bringt „Der Philosophenstreit“ Neues und worauf liegt der Schwerpunkt in deinem neuen Buch?
Erstmals vielen Dank fur die Initiative fur ein Interview uber die arabische und islamische Philosophie und zum Philosophenstreit. Ich fuhre gern das Gesprach mit dir, denn die Frage ist sehr wesentlich. Was war meine Motivation, als ich angefangen habe, uber die arabische und islamische Philosophie politisch und ideengeschichtlich zu forschen und zu schreiben? Es war der Zustand, der heute uber die Welt herrscht, eine Kultur des Todes und des Mordes und diese Kultur hat sich so verbreitet und etabliert, dass die Menschen sich nicht mehr wundern uber militarische anthropogene Katastrophen. Die arabische und islamische Philosophie ist eine Philosophie des Lebens, basiert auf dem Boden des Humanismus, den sie auch begrundet, des Friedens und der Bedeutung des Kodexes der Ethik. Bei der Entgleisung unserer Gegenwart in eine Katastrophe, die keinen Sieger hat, sondern nur Verbreitung von Gewalt, Mord und Kriegsverbrechen, hatte ich einen Drang, zu dem Punkt zuruckzukehren, wo diese Entgleisung eingetreten ist.
Hat die Rezeption in Europa einen anderen Stellenwert?
Ja. Die Rezeption in Europa hat sehr fruh begonnen, erfolgte teilweise noch zu Lebzeiten der Philosophen und Autoren und hat schon damals einen aggressiven Akzent bekommen. Etwa in der Ubersetzung des Titels Tahāfut al falāsifa, was ja ubersetzt heisst: das Ungenugen der Philosophen. Und daraus haben die Europaer gemacht: Destructio, also Zerstorung der Philosophen. Das hat wirklich weder Ghazali mit seinem Titel Tahāfut al falāsifa noch Ibn Rushd mit seinem Titel Tahāfut at-tahāfut gemeint.
Welchen Stellenwert hat der Philosophenstreit im heutigen Diskurs? Was kann ein Streit, der vor 1000 Jahren geführt wurde, uns heute sagen?
Also, korrekt, vor exakt 1000 Jahren hat Ibn Sina begonnen, seine Thesen zu schreiben und die waren in hochstem Masse emanzipatorisch und humanistisch, auch friedfertig… Die Ruckkehr zu dieser Welt wird dazu fuhren, dass wir verlorene Dimensionen wieder entdecken konnen. Verloren gegangen sind die erhabenen Dimensionen des Geistes, und die hoheren Spharen des Denkens. Heute dominiert die starke Reduktion auf Konsum, auf materielle Guter, auf Geld und Bereicherung, wahrend die damalige Philosophie auch mit Offnung zum Sufismus die Bedeutung der geistigen Spharen und der Spiritualitat und vor allem der Ethik entdeckt. Wir benotigen heute dringend das Erbe der arabischen und islamischen Philosophie. Der Philosophenstreit greift die Themen auf, die Gegenstand von Auseinandersetzungen waren zwischen Ibn Sina, Ghazali und Ibn Rushd.
Gibt es im Buch Thesen, die eine besondere Bedeutung für dich haben?
Kein Kontroversthema sondern Konsens war die Bedeutung der Ethik, die alle betonen. Die Ethik hat ihre Bedeutung heute verloren. Wir sehen täglich die Kriege, hören Nachrichten über Mord, Völkermord, Massenmord, das hat sich normalisiert und diese ungesunde Normalitat muss durchbrochen werden. Eine These unter dem Aspekt dieser Philosophie ist eben, wir brauchen die Wiederentdeckung der Ethik, „al-Ahlāq“. Und die Thesen uber den Einklang des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos. Hier in Europa werden Epochen der europaischen Geistesgeschichte als Rationalismus oder als Aufklarung bezeichnet, was ich leider nicht so sehe. Auch die europaischen Epochen der so genannten Aufklarung oder des Rationalismus waren militarische Epochen und Aggressionen des Nordens gegen den Suden und des Westens gegen den Osten und darum musste die Politik der Vernunft, die ja von der arabischen Welt nach Europa kam, durch die Entdeckung des ‚aql, neu belebt werden. Dass gerade dann, wenn die Wissenschaften fortgeschritten und imstande sind, elektronischen Krieg zu führen oder unbemannte Mordmaschinen, Drohnen, in die Luft zu schicken, um Menschen, die man uberhaupt nicht kennt, umbringen zu konnen, da ist die Ruckkehr zu einer Vernunft hochst notwendig, die das verbietet und nicht gebietet, wie das durch die Entartung der Philosophie in Europa betrieben wird.
Welche Probleme gab es bei der Übertragung der arabischen Philosophie in eine europäische Sprache – am Beispiel der deutschen Sprache?
Die wichtigsten Probleme der Ubertragung waren erstens das Fehlen philosophischer Begriffe in den europaischen Sprachen. Man musste neue Begriffe entdecken, um die Fehlubersetzungen zu uberwinden und adaquate Ubertragungen zu machen. Ich habe versucht, die arabischen Originalbegriffe erst einmal linguistisch zu erklaren, um eine Sensibilitat dafur zu schaffen, dass man notfalls auch neue Ausdrucke erfindet, um diesen Inhalten nahezukommen. Und das zweite Problem ist, dass der europaische Diskurs verarmt ist an adaquater humanistischer Terminologie, weil der Humanismus hier in Europa paradoxerweise auch zum Mittel des Krieges geworden ist; wenn etwa gesagt wird: Wir greifen den Irak an, um dort Menschenrechte zu verteidigen. Also, man totet Menschen, um die Menschenrechte zu verteidigen. Hier ist eine totale Entartung im europaischen Diskurs eingetreten. Ich beherrsche die Sprachen, in denen ich schreibe, und sehe auch, wo semantische Lucken bestehen. Um das auf drei Thesen zu beschranken, mochte ich als drittes anfuhren: Der Universalismus ist von Anfang an im arabischen Schrifttum und im arabischen Denken verankert. Universalismus bedeutet ja Integration und dass bei jeder speziellen Frage die Ubersicht nicht verloren geht. Die Integration von Spezialisierung, das muss man bei jeder einzelnen Frage beachten, damit man nicht mehr entgleist und durch den Einzelpunkt den Zusammenhang ubersieht. Die arabische Philosophie und die arabischen Wissenschaften sind eine Schule der Praxis, des Universalismus, der Wissenschaft, der Philosophie und des Denkens.
Die Rezeption der arabischen und islamischen Philosophie und des Philosophenstreits im engeren Sinne ist in der Scholastik im 12. und den folgenden Jahrhunderten zu reduktiv rezipiert worden. Die europaischen Sprachen waren nicht weit entwickelt, man benutzte Latein, eine zu eng konstruierte Sprache der Klerikalen und der Kirche, der Militars, des Handels und der Verwaltung. Aber es ist keine Sprache gewesen, die fur die Philosophie geeignet war. Durch die Ubersetzung arabischer Werke in die lateinische Sprache hat sich die lateinische Sprache entwickelt und diese neue lateinische Sprache nennen auch die Lingquisten „mittellateinisch“. Sie war viel weiter entwickelt als Altlateinisch, aber nicht genug. Heute gibt es eben die Nationalsprachen und damit hat der Autor Moglichkeiten, eine moderne Sprache zu benutzen, die fahiger ist, Formulierungen und Ausdrucke aufzustellen. Ich benutze diese modernen Nationalsprachen auch, vergleiche sie mit den lateinischen Ubersetzungen und konnte ein geistiges Erbe aus dem Arabischen bringen, in einer viel adaquateren und viel breiteren Weise als die Ubersetzer, die vom Arabischen in die lateinische Sprache ubersetzt haben.
Ich habe mir als Hochschullehrer bei jedem Unterricht die Frage gestellt: Was willst du heute vermitteln? Was ist das Erkenntnisziel? Ich kann nur vermitteln, was ich selber verstehe. Eigentlich bei allen meinen Schriften und Publikationen und speziell bei der arabischen und islamischen Philosophie bin ich geleitet, erstens1. vom Gegenwartsbezug, also wir leben heute im 21. Jahrhundert und nicht zur Zeit des Philosophenstreits.
Und zweitens von der Praxisorientierung. Gegenwartsbezug, Praxisorientierung und die Ideale des Universalismus, des Humanismus, der Einheit; Universalismus ist die Methode, Humanismus ist das Ziel und die Einheit ist die Praxis. Diese Einheit ist in Europa total verloren gegangen. Der europaische Diskurs stellt die Menschen als Gegensatze zueinander, die Europaer sehen sich als Gegenentwurf zum Orient. Diese Mythologie ist nicht weit entfernt von der Aggressivitat und Destruktivitat, das ist die Grundlage eines jeden europaischen Staates. Der europaische Dualismus sieht nicht die Einheit wie das arabische Denken, das die Einheit immer wieder neu belebt und in jeder Frage konkretisiert: Tawhid.
Ein kleines Beispiel, um das anschaulicher zu machen: Die Schopfungsgeschichte ist ja ein universeller Glaube. Aber schon dieses Dogma der Schopfung des Menschen durch Gott ist ein Dualismus, Dualismus von Gott und Mensch. Und die Lehre von Emanation wird von Ibn Sina mit dem Begriff „Faid“ philosophisch reflektiert, als eine Theorie der Einheit von Gottlichkeit und Menschlichkeit. Dazu mochte ich anfugen, wie aktuell Ibn Sina ist, der vor 1000 Jahren genau 27 Jahre alt und auf dem Hohenflug seines Denkens war. Er pragte viele Begriffe, die ich in adaquates europaisches Vokabular und mit der entsprechenden Semantik ubersetzte. Ibn Sina pragte die Begriffe „guz’iyyāt“ und „kulliyyāt“. Ich habe „kulliyyāt“ mit Universalien und „guz’iyyāt“ mit Partikularien ubersetzt. Das war auch von grosser erkenntnisreicher Bedeutung, weil damit hat Ibn Sina eine Makrotheorie der Evolution begrundet, also man sieht tatsachlich in der arabischen Philosophie einen Reichtum, der bestimmt das Denken in Europa bereichern wird.
Hier gab es ja den Streit zwischen Universalismus und Partikularismus, vor allem zwischen den Postmodernen und den Positivisten. Im europäischen Universalismus werden so genannte westliche Werte und Kampfbegriffe wie Menschenrechte oder die Aufklärung ins Feld geführt. Dagegen vertrittst du einen antiimperialistischen Universalismus und stehst in totalem Gegensatz zu den europäischen Universalisten.
Das ist ein wichtiges Beispiel dafur, wie jeder Begriff im Imperialismus in die imperialistische Kultur eingetaucht und entsprechend interpretiert wird, da ist auch keine Religion und kein Begriff davon frei. Nicht mal in der Theologie, in der Kunst und naturlich auch nicht in den einzelnen Wissenschaften. Also wenn ich hier einen adaquaten Begriff fur Universalismus bringen musste, so ist das Integration. Das Universum ist nicht ein Haufen von einzelnen Teilen, sondern ein einheitliches Ganzes. Wenn jetzt ein Europaer kommt, Friedman oder sonst ein Politiker, und daraus „Globalisierung“ macht oder „Herrschaft des Imperialismus uber die Welt“, ist das eine Entartung des Begriffs Universalismus. Wie naturlich jeder alle anderen Begriffe im Imperialismus entartet sindist, auch Menschenrechte und Demokratie und alle diese Fragen. Das wird auch taglich aufbereitet in den Medien, so dass du, wenn du eine Reform der Sprache oder eine Umwalzung des Denkens anstrebst, mit grossen Schwierigkeiten konfrontiert sein wirst. Daher sehe ich dieses Dreieck als untrennbar, namlich: Universalismus ist eine Methode, und Humanismus ist das Ziel und Einheit kann nur in Gerechtigkeit, Gleichstellung, in Verbruderung und Verschwesterung geschehen. Jeder und jede, und du auch in deinen Schriften, sind berufen, den Antiimperialismus nicht nur als Ideologie, sondern als Gegenkultur gegen den Imperialismus und die Herrschaft des Westens bzw. des Nordens uber den Suden und der Weissen uber die Schwarzen zu begreifen. Und so konnen wir die Philosophie als Mittel der Veranderung, der Reform und als Korrektiv sehen gegen die Entartung, die durch den Imperialismus eingetreten ist.
Vielen Dank für das Interview, Karam!