Interview mit Prof. Dr. Mehmet Özdemir, Professor für Islamische Geschichte und Künste an der Universität Ankara, über die Geschichte und das Wirken der Juden Andalusiens.
Die Fragen stellte Ömer Faruk Bag; übersetzt von Ibrahim Yavuz
Welchen Platz nahmen die Juden in der Gesellschaft auf der iberischen Halbinsel unter der Herrschaft der Westgoten ein?
Es ist noch nicht ganz klar herausgestellt worden, wann die erste jüdische Besiedelungen auf der iberischen Halbinsel stattfand. Nach der ersten Zerstorung des Jerusalemer Tempels wanderten judische Gruppen nach Europa aus und somit auch nach Spanien. Es gibt aber auch Forscher, die die Auswanderung auf das Jahr 70 – die Zerstorung des Tempels durch die Romer – datieren. Auf jeden Fall gilt die allgemein akzeptierte Ansicht, dass ab dem Ende des ersten Jahrhunderts judische Gemeinden in Spanien vorfindbar waren. In Anbetracht der vorliegenden Daten wissen wir, dass im 4. Jahrhundert in Stadten wie Tarragona, Tortosa, Orihuela, Elche, Cordoba,das Gebiet um Toledo, Avila, Granada, Lissabon, Merida, Sevilla und Zaragoza judische Gemeinden lebten.
Spanien lernte das Christentum im 2. Jahrhundert kennen. Es ware somit nicht falsch zu sagen, dass die judische Prasenz in Spanien etwas alter ist als die christliche. Das Christentum erfuhr ab dem 4. Jahrhundert eine sehr schnelle Verbreitung, vor allem seitdem das Christentum durch das romische Reich offiziell anerkannt wurde. Das im Jahr 314 abgehaltene Konzil von Iliberi zeigt, dass das Christentum zu der Zeit Wurzeln in Spanien geschlagen hat. Ab der zweiten Halfte des 5. Jahrhunderts war Spanien nicht mehr unter der Vormachtstellung der Romer, weil Uberfalle aus dem Norden stattfanden – wie jene der Westgoten, die die Romer als “Barbaren” bezeichneten. Im 6. Jahrhundert nahmen die Westgoten das gesamte Gebiet ein und grundeten ihren eigenen Staat. Da die Westgoten aber Arier waren und sie den Gedanken, dass Jesus ein wirklicher Gott war, ablehnten, wurden sie von den orthodoxen Christen, die vermehrt in Spanien lebten und an die Trinitat glaubten,nicht akzeptiert. Um die Opposition des Volkes zu uberwinden, entschieden sich die Westgoten geschlossen ins orthodoxe Christentum (spater Katholizismus) uberzutreten. Mit dieser Entscheidung entwicklete sich Spanien zu einem “christlichen Spanien” mit einer judischen Minderheit. Dieses neue christliche Spanien bestand bis zu den Eroberungen
durch die Muslime im Jahre 711.
Nun, wie war die Lage der Juden im Spanien der Westgoten?
Als Spanien noch im 3. und 4. Jahrhundert unter der Herrschaft der Romer war, besasen die Kirchenvertreter keine Macht, um Druck gegenuber den Juden auszuuben. So versuchten sie ihrer eigenen Gemeinde Vorschriften aufzuerlegen, um die neu entstehende Gemeinde von den Juden abzugrenzen. So wurden z.B. den Christen verboten mit den Juden zusammen zu essen, untereinander zu heiraten, bei judischen Festtagen mitzufeiern. Nachdem das romische Reich das Christentum anerkannte, wurden die Auswirkungen auch in Spanien spurbar. Mit der Unterstutzung des Staates mussten die Christen in Spanien nicht mehr eigene Grenzen setzen, sondern konnten “den Anderen” Grenzen auferlegen. Die Westgoten haben bis zu ihrem Konfessionswechsel (in Bezug auf die Juden) keine ernst zunehmende Einschrankung auferlegt. Nachdem sie aber im Jahre 589 nun endgultig den Katholizismus angenommen hatten, hatte dies sehr grose Auswirkungen auf die einzige (religiose) Minderheit. Ab diesem Datum wurde auch immer wieder eine Politik gegen die Juden betrieben. Diese Politik wurde in Kooperation zwischen dem Staat und der Kirche durchgefuhrt. Um nur einige Beispiele zu nennen: Das im Jahre 589 zusammengekommene Konzil von Toledo bestatigte die vorher verabschiedeten Gesetze wie das Verbot uber das Heiraten eines Christen mit einem Juden oder einen christlichen Sklaven zu besitzen. Schlieslich verkundete Konig Sisebut 613, dass entweder alle Juden sich taufen lassen oder das Land verlassen sollen. Beim 4. Konzil von Toledo sah man zwar auf der einen Seite die erzwungene
Taufe nicht positiv an, auf der anderen Seite sollten aber die getauften Juden die Anforderungen des Christentums beachten. Das 6. Konzil von Toledo im Jahre 638 hat im Vergleich zum vorigen Konzil die Politik von Sisebut – “Taufe oder Exil” – gebilligt. Auf dem 12. Konzil von Toledo (681) wurde entschieden, dass die Juden innerhalb eines Jahres getauft werden oder ins Exil geschickt werden sollen. Zudem wurde fur die Juden das Feiern von Festtagen und die Beschneidung verboten. Schlieslich entschied das Konigreich der Westgoten, dass alle Juden, die nicht zum Christentum ubergetreten waren, versklavt werden.
Wie wurde die Eroberung Spaniens durch Muslime seitens der Juden begegnet?
Die Muslime kamen 711 nach Spanien, in einer Zeit, in der die judische Existenz und Identitat vom Aussterben bedroht war. Die Muslime hatten mehr oder weniger das ganze Land erobert. Die Mehrheit der judischen Bevolkerung blieb in den Gebieten, die durch die Muslime beherrscht wurden: in al-Andalus. Die Muslime haben alle Vorschriften und Gesetze der Westgoten gegenuber den Juden aufgehoben. Dieses fuhrte dazu, dass die Juden als Religionsgemeinschaft wieder erstarkt sind. Das 10. und 11. Jahrhundert gilt bis heute als das “Goldene Zeitalter”fur Muslime und ebenfalls auch fur Juden.
Wie ist es in Andalusien zu jener Zugehörigkeit und jenem Bewusstsein gekommen, welche einen andalusischen Juden dazu bringt, in seinem Brief an einen im Osten Lebenden selber Konfession, den muslimischen Herrscher in Andalusien als “unser Khalif” und jenes Land als “unser Andalusien” zu bezeichnen?
Abgesehen von den gewohnlichen Schaden als Folge der Feldzuge, folgten die muslimischen Eroberer einer Politik, welche die Angehorigen jeglicher Konfession auf ihrer eigenen Religion, Brauche und Tradition belasst. Anders ausgedruckt, gaben sie den Nichtmuslimen das Recht auf Religionsfreiheit und –ausubung, sowie das auf den Schutz ihrer Gebetshauser, Sprachen und Sitten. Sie haben ihnen erlaubt, ihre Beziehungen mit den Juden auserhalb Spaniens zu pflegen. Sie haben die Juden in das Verwaltungswesen eingebracht. Ein typisches Beispiel hierfur stellt Chasdai ibn Schaprut dar, der im 10. Jahrhundert im Palast der Umayyadan hervorstach. Er war zugleich der Oberhaupt der judischen Gemeinde, diente sowohl als Leibarzt als auch als Diplomat und Ubersetzer. Man hat die Juden dabei unterstutzt, kommerzielle Beziehungen mit dem Rest der muslimischen Welt aufzunehmen, wodurch sich ihre okonomische und kulturelle Lage verbessert hat. Judische Wanderer und Gelehrte, die auch unter den Juden auserhalb Anadalusiens lebten, haben diesen hohen Wohlstand zu schatzen gewusst. Der judische Dichter aus Andalusien Moses ibn Esra sagt in seiner Beschreibung des christlichen Nordspaniens, wo er wahrend den Almoraviden eine Zeit lang im Exil leben musste, dass das Schicksal ihn unter ein Volk gebracht hat, deren Sprache unverstandlich ist und von der Wissenschaft nur wenig abbekommen haben. Die judische Gemeinschaft agierte in dem Bewusstsein mit den Rechte und Moglichkeiten, die ihnen seitens der andalusischen Verwalter erstattet wurden. So blieb sie wahrend den lokalen Aufstanden wahrend des 9. Jahrhunderts stets auf der Seite der Regierung. Im 10. und 11. Jahrhundert zogerten sie nicht, ihre Erfahrungen in den Dienst der muslimischen Herrscher zu stellen.
Als der andalusische Gelehrte Talut ibn ‚Abd al-Jabbar zum Tode verurteilt wurde, fand er ein Jahr lang bei einem jüdischen Bekannten Unterschlupf. An diesem Beispiel sieht man, dass in dieser Zeit für einen Muslim manchmal der sicherste Ort eine jüdische Gegend sein konnte. Wie waren die Beziehungen zwischen der muslimischen und der jüdischen Gemeinschaft?
In der Gesellschaft Andalusiens gab es drei Hauptgruppen: Muslime, Christen und Juden. Da keine isolierende Mauern zwischen diesen bestand, gab es kaum Probleme bei der Kommunikation. Im Gegensatz zu den judischen Ghetttos im mittelalterlichen Europa gab es in den Stadten Andalusiens eine Nachbarschafts- und Arbeitskultur, was die Menschen miteinander verbunden hat. Die Kunden der judischen Handler, die Waren aus Europa aber auch aus dem Osten brachten, waren zum Grosteil Muslime. Auf der anderen Seite kann man sehen, dass manchmal eine Unterkunft bei einer judischen Familie der sicherste Ort sein konnte. Zudem wird uberliefert, dass Ibn Hazm als er sich fur eine Zeit in Almeria aufhielt – seine naheste Bekannschaft mit einem judischen Arzt hatte. Daruber hinaus weis man auch, dass es fur einen christlichen oder judischen Studenten ganz normal war, von einem muslimischen Gelehrten unterrichtet zu werden.
Welche Rolle spielten die jüdischen Gelehrten beim Wissenstransfer der islamischen Zivilisation in Andalusien nach Europa?
Die judische Gemeinschaft spielte sowohl im Aufbau der Kulturlandschaft in Andalusien als auch beim Wissenstransfer nach Europa eine sehr grose Rolle. Sie benutzen ihre Muttersprache – das Hebraische – als “Religionssprache”. Dem entgegen wurde das Arabische als Wissenschaftssprache von allen verwendet, weil das Arabische sich im Westen und im Osten als Zivilisationssprache etabliert hatte. Judische Theologen und Philosophen verfassten ihre Hauptwerke in arabischer Sprache. Auch wenn sich die andalusischen Stadte ab dem 12. Jahrhundert unter christliche Herrschaft wandten, konnte die andalusische Kultur- und Wissenstradition durch die Juden zwei Jahrhunderte lang weitergefuhrt werden. Nach den immer zahlreicheren Ubernahmen der andalusischen Stadte wurden zwar die Muslime auserhalb der Stadte vertrieben, jedoch konnten judische Familien zeitweise noch in den Stadten leben. Somit wurde die andalusische Kultur durch die Juden in den Stadten noch aufrecht erhalten werden. Zudem kann die Rolle der judischen Gelehrten bei der Ubersetzung des muslimisch-judischen Wissenserbes nicht ubersehen werden. Vor allem die Tatigkeiten in der Stadt Toledo sind bemerkenswert. Toledo war ab 1085 Teil des kastellianischen Konigreichs. Somit wurden die faszinierenden Bibliotheken in dieser Stadt auch eingenommen. Da man sehr schnell bemerkte, dass sich sehr viel wissenschaftliches Material dort befand, entschied man sich, eine Ubersetzungsbetatigung zu starten, um die Werke vom Arabischen ins Lateinische zu ubertragen. Viele Neugierige und Gelehrte aus ganz Europa kamen nach Toledo, jedoch konnten viele von ihnen kein Arabisch. Die Juden, die dort lebten, konnten naturlich Arabisch, aber auch die vor Ort gesprochene Sprache. So fingen die judischen Gelehrten an die Werke vom Arabischen erst in die regionale Sprache zu übersetzen und danach wurden diese Werke von den europaischen Ubersetzern ins Lateinische ubertragen. Da einige originale Werke verschwunden waren, gab es Exemplare, die nur noch in hebraischer Ubersetzung vorhanden waren, welche auch mit der gleichen Methode ins Lateinische ubertragen wurden. Hier ist es unumganglich den judischen Ubersetzer Johannes Hispanus zu erwahnen, der groses geleistet hat. Durch diese Ubersetzungstatigkeiten lernte man im Westen Namen wie Ghazali, Averroes, Ibn Tufeyl, Avicenna, Farabi, Zehravi, Zerkali und Razi kennen, die in den Bereichen Philosophie, Medizin, Pharmazie, Mathematik, Landwirtschaft, Theologie, Geographie usw. Werke hinterliesen. Ohne Zweifel haben diese Aktivitaten bei der Gestaltung der Rennaisance und Reformbewegungen auch eine Rolle gespielt, wenn nicht sogar zu einem gewissen Grad die westliche Zivilisation (bis heute) beeinflusst.
Welches gemeinsame Schicksal erlebten Juden und Muslime in der Reconquista?
Die christlichen Eroberer des andalusischen Territoriums haben die Erfahrungen der Juden in Sachen Finanzwesen und Ubersetzungstatigkeiten; die Erfahrungen der Muslime in der Landwirtschaft und Architektur genutzt, weil die christliche Gesellschaft noch in Teilen zu schwach in diesen Gebieten war. Doch nach dem auch Christen in diesen Bereichen aktiver geworden sind, gab es einen Politikwechsel und man entschlos sich, Juden und Muslime zu vertreiben. Je mehr Stadte eingenommen wurden, desto mehr wurden finanzielle Einschrankungen durchgefuhrt. Letztendlich kam es an unterschiedlichen Orten und Zeiten sogar zu Massenhinrichtungen der Juden.Wieder wurden die Juden vor die Wahl gestellt, entweder in das Christentum uberzutreten oder auszuwandern. Somit, wenn auch nur formlich, konvertierten viele Juden. Schlussendlich wurden 1492 die Juden aus Spanien vertrieben, einige von ihnen haben sich im osmanischen Reich – in den Stadten Izmir und Istanbul, in Bosnien u.a. – niedergelassen. Ab dem Jahre 1500 wurde die gleiche Prozedur nun bei den Muslimen angewandt. Hatte man in Spanien die Idee, einen Staat mit einer Religion und einer Kultur zu gründen, nicht den Vorzug gegeben, und stattdessen eine Ansicht der echten Toleranz und Multikulturalitat bevorzugt – wie man sie im 12. und 13. Jahrhundert im Grosteil Spaniens etabliert sehen konnte – hatte Europa das gegenwartig Problem der Multikulturalitat vermutlich viel früher losen konnen.
Vielen Dank für das Interview!