Lust auf ein Gedankenexperiment? Da Sie gerade weiterlesen, haben sie diese Frage positiv beantwortet.
Stellen Sie sich vor, Sie schlafen heute Abend in Ihrem Bett ein und wachen morgen in einem Raum voller fremder Personen auf. Die Ansammlung der Menschen könnte nicht diverser sein. Es sind Kinder genauso wie ältere Personen, junge wie erwachsene Menschen, Frauen wie Männer vorhanden. Menschen verschiedener sozialer Klassen, Ethnien, religiöser Zugehörigkeit, Hautfarben und Kulturen – alle in einem Raum versammelt und im Kreis aufgestellt.
Plötzlich erfahren Sie, dass jede Minute eine Person im Raum dazu verurteilt ist zu sterben. Jedoch haben Sie, wie auch jede andere Person im Raum, die Möglichkeit abzustimmen, wer als Nächstes gehen soll. Die Person mit den meisten Stimmen ist immer die auserwählte Person, die zum Tode verurteilt wurde. Am Ende kann nur eine Person überleben. Und jetzt stellen Sie sich die Frage, wie würden Sie abstimmen?
The circle
Personen, die den Film „The Circle“ gesehen haben, sind mit diesem Gedankenexperiment vertraut. Der Film handelt genau von diesem Thema und wirft etliche Beispiele moralischer Konflikte auf. Wie entscheiden Menschen, wenn sie die Macht besitzen, über Leben und Tod zu entscheiden? Das Interessante des Films ist, wie plötzlich der Mensch beginnt andere Menschenleben zu werten oder auch zu entwerten. Das Konzept des Films erinnert sehr stark an das Trolley-Problem, auch wenn sich hier keine Möglichkeiten eines utilitaristischen Konzepts ergeben. Die Macht und Verantwortung über andere Leben zu entscheiden ist zwar gegeben, jedoch steht, im Gegensatz zum Trolley-Problem, das Erhalten des eigenen Lebens hier im Vordergrund.
Der erste Entschluss
Wie würden Sie entscheiden? Vielleicht würden Sie in der Situation anders entscheiden als jetzt. Doch was wäre ihr jetziger Entschluss? Wen würden Sie als erstes sterben lassen? Würden Sie überhaupt abstimmen?
Im Film wird der Entschluss getroffen, als erstes die älteren Personen aus der Runde zu eliminieren. Die Argumentation erscheint vielen schlüssig: Ältere Menschen haben ihr Leben gelebt und hinter sich, junge Menschen haben es noch vor sich und deswegen haben sie das Leben mehr verdient. Ist dies wirklich ein gutes Argument? Anti-Natalisten würden wahrscheinlich widersprechen.
Betrachtet man das Konzept des Anti-Natalismus, so ist die Hauptargumentation zu erkennen, dass anderen das Leben zu schenken ethisch nicht vertretbar sei, denn der Mensch erfährt Leid, Schmerz, Trauer und Niederlagen im Leben und diese können durch die Freude, die er im Leben erfährt, nicht kompensiert werden. Deswegen argumentieren Anti-Natalisten für einen Stopp der Fortpflanzung des Menschen, denn wie ethisch vertretbar wäre es denn, so ein Leben einem weiteren Menschen zu zumuten?
Vielleicht wäre dies der Grund, weshalb Anti-Natalisten sich nicht für die älteren, sondern für die jüngeren Personen im Raum entscheiden würden. Damit die jüngeren Personen kein Leben voller Leid empfinden müssen. Doch die grausame Entscheidung, als erstes die älteren ausscheiden zu lassen, beinhaltet eventuell eine wichtige Lektion bzw. positive Nachricht. Es zeigt sich ein positives Menschenbild bei Individuen, denn wäre es so negativ, wie oft behauptet wird, würde es keinen Drang danach geben, das Leben der jungen Menschen zu erhalten.
Gruppen und Wertung?
Der Film erläutert auf eine sehr gute Weise, wie schnell Gruppen gebildet werden, die als gemeinsamer Faktor gegen andere agieren. Das erschreckende daran ist, wie diese Menschengruppen das Leben von anderen Individuen werten oder besser gesagt, entwerten. Menschen mit Migrationshintergrund, Personen die schlecht die Sprache sprechen oder auch Individuen unterer sozialer Klassen werden zu Beginn ins Visier genommen. Das Mensch-Sein oder das Recht auf ein Leben, wird ihnen abgesprochen. Und was macht der Rest, der kein Teil dieser Gruppen ist? Er macht mit. Eine kleine Gruppe bestimmt den Ton und die restlichen Entscheidungsträger springen auf den Zug rauf, bis zu dem Punkt, an dem sie plötzlich selber ins Visier genommen werden.
Dies klingt für einige heftig, doch würden Sie in so einer Situation anders handeln? Sind Sie sicher, dass Sie nicht auf den Zug der „Wertung“ springen würden? Vielleicht spiegelt dieses extreme Beispiel unsere heutige Gesellschaft wider. Die politische Sprache und Welt sind heutzutage voller Wertung von Menschen. Flüchtlinge werden zu Invasoren und die eigenen „Werte“ werden als Non plus Ultra präsentiert. Im akademischen Bereich finden wir ähnliche Wertungen, in dem man vom „Kampf der Kulturen“ spricht oder jegliche Errungenschaften anderer Zivilisationen vereinnahmt oder niedermacht. Und in sozialen Medien finden wir heute Bots wieder, die bestimmte Meinungen äußern, um die Stimmung in eine bestimmte Richtung zu kippen. Wie wir sehen, ist der Weg der (Ent)Wertung ist nicht nur in diesem extremen Beispiel des Films präsent, sondern auch in unserem Alltag. Deswegen frage ich Sie nochmal, wären Sie immun dagegen, das Leben anderer Menschen zu werten? Und sind Sie sicher, dass Sie im Film überleben würden, wenn Sie sich der Abstimmung enthalten würden?
Die Letzte Entscheidung
Angenommen Sie haben überlebt und finden sich am Ende als eine von drei Personen wieder. Es sind nur noch ein junges Mädchen, eine schwangere Frau und Sie übriggeblieben. Wie entscheiden Sie? Was wäre ihr letzter Entschluss? Opfern Sie sich heldenhaft, um den anderen das Überleben zu sichern? Soll die schwangere Frau oder das junge Mädchen überleben? Welches Leben ist Ihnen mehr wert oder werten Sie nicht und es ist Ihnen egal? Das Gedankenexperiment neigt sich dem Ende zu und es hängt jetzt von Ihnen ab – entscheiden Sie sich!
Vielleicht verstehen wir durch das Ende des Films, ohne das Ende hier verraten zu wollen, weshalb Kant seinen Text „Warum der Mensch Erziehung braucht“ geschrieben hat. Vielleicht verstehen wir dann, weshalb der Mensch, im Gegensatz zum Tier, erzogen werden muss. Vielleicht erkennen wir dadurch, weshalb das Herz des Menschen ständiger Erziehung bedarf.
Bildnachweis: https://www.hollywoodreporter.com/review/circle-film-review-806035