Um eine Erinnerungskultur im bosnischen Kontext (DerWisch-Schwerpunkt folgt im Juli 2019) zu etablieren bzw. zu festigen lohnt sich ein Blick auf geschichtlich ähnlich gelagerte Fälle. Wie sehr diese vergleichbar sind bzw. jeder Fall seine eigenen tragischen Bedingungen aufweist und damit unvergleichbar ist, sollte damit leichter wahrgenommen werden. Im Windschatten der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien Anfang der 90er-Jahre vollzog sich ein ähnlich entmenschlichter Genozid in Ost-Afrika. Gemeinsam ist beiden neben dem hervorgerufenen Entsetzen das verzweifelnde Unverständnis, das einsetzt, wenn man nach den Ursachen fragt. Ruanda 1994 ist so unverständlich, weil es dort zum Kampf zwischen zwei ethnischen Gruppen kam, bei denen die Unterschiede kaum geringer sein können. Wie sehr diese Unterschiede auf Konstruktion und der Übernahme von Fremdzuschreibungen aus der Kolonialzeit beruht, soll im Folgenden verdeutlicht werden.
Zur Geschichte Ruandas: das Erbe der verspäteten Nation
Dazu erst einmal ein Blick in die koloniale Vorgeschichte. Die Zeit des 19. Jahrhunderts ist für viele in Deutschland gekennzeichnet durch das Gefühl, zu spät gekommen zu sein. Lange nach Frankreich, dem großen Konkurrenten, gelingt Deutschland erst 1871 die ersehnte Gründung seines Nationalstaats. Doch der Weg zur Sonne unter die ganz großen Player war versperrt. Die anderen wichtigen europäischen Mächte hatten sich die Welt bereits aufgeteilt. Schon ungerecht, dass der deutschen Kulturnation so wenig gegönnt wurde; so fühlten tatsächlich viele! Zielstrebig machte man sich daran, wenigstens aus den letzten Krümeln des Kuchens ein kleines Kolonialreich zusammenzukneten, um die „Kränkung“ zu überwinden, innerhalb Europas die „verspätete Nation“ (wie man sie später nannte) zu sein. Deutsch-Neuguinea, einige Inselstaaten im Pazifischen Ozean, und vier Stückchen Territorium in Afrika: Togo, Namibia, Kamerun und das Gebiet um das heutige Tansania. In Namibia wurde am Volk der Herero der erste deutsche Genozid der Moderne durchgeführt, bis heute geprägt von gegenseitigen Schuldzuweisungen, Ableugnung, Kleinreden und das Gezerre um Reparationen. Erstaunlicherweise in krassem Widerspruch zum ansonsten gerne gepflegten Bild der „selbstkritischen“ Nation. Aber Vergangenheitsbewältigung ist ein anderes Thema.
Zurück zum Gebiet des damaligen „Deutsch-Ostafrika“. Dieses umfasste von 1885-1918 neben Tansania auch das heutige Territorium der sehr kleinen Staaten Ruanda und Burundi. Unzertrennbar verknüpft mit der kolonialen Durchdringung war auch immer die wissenschaftliche Vorarbeit. Und das bedeutete im Kolonialzeitalter unter anderem Ethnologie oder deutscher ausgedrückt „Völkerkunde“. Das 19. Jahrhundert hatte einen beeindruckenden Ausbau der Sprach-, Geistes-, und Geschichtswissenschaften zu verzeichnen. Eine Ausdifferenzierung zahlreicher Wissenschaften und Spezialdisziplinen rund um den Menschen war die Folge. Besonders prominent im deutschsprachigen Raum waren Theorien zu Sprachfamilien und genetischen Beziehungen zwischen Dialekten, Sprachen und Ethnien. So weit so gut, ein interessantes und erkenntnislohnendes Unterfangen. Doch so wertfrei konnte über die Beziehungen der verschiedenen ethnischen Gruppen im Kolonialreich dann doch nicht geforscht werden. Oder, vorsichtiger ausgedrückt, vielleicht wurde viel Wertvolles mit guter Absicht an den Lehrstühlen geleistet, doch später in der Politik nur auf seine Verwertbarkeit hin ausgewählt. Das Ergebnis ist ähnlich. Für Ruanda und Burundi bedeutet dies konkret die Hamiten-Theorie und das Leid, das sie über die Menschen gebracht hat.
Die Hamitentheorie – nichts zum Lachen!
Dem aufgeweckten abendländischen Beobachter war auf seinen Streifzügen durch Ostafrika wieder mal etwas aufgefallen, das den dortigen Bewohnern entgangen sein musste: Hochgewachsene, schlanke Viehzüchter mit angeblich vorderasiatisch wirkenden Gesichtszügen (wer weiß, vielleicht den Europäern doch etwas näher verwandt?) und kleingewachsene gedrungene, „negrid“ aussehende Ackerbewohner auf der anderen Seite teilen sich die gleiche Sprache, weitgehend die gleiche Kultur und das in Ruanda, Burundi und teils auch in den Nachbarstaaten. Wir korrigieren: Natürlich war das den dortigen Bewohnern aufgefallen, daher hatten sie beide ethnischen Gruppen unterschiedlich benannt. Diese wurden offensichtlich jedoch weniger rassisch verstanden als im Sinne einer sozialen Stratifikation. Schon seit langem hatten sich Machtbeziehungen heraus kristallisiert, nach denen die Tutsis stärker als herrschende Elite (mit monarchischen Strukturen) verstanden wurden. Was neu war, war der ethnologische Blick, die wissenschaftliche Schublade, die bis jetzt gefehlt hatte. Die ultimative und saubere Klärung der Abstammung. Das Resultat war die sog. Hamitentheorie. Zusammengefasst:
a) Die Tutsis stammen aus Ostafrika. Ihnen werden über ihre grazilen Gesichtszüge ein aristokratisches Auftreten, höhere Kulturleistungen und eine natürliche Veranlagung zum Herrschen konstatiert.
b) Die Hutus, kleiner gewachsen und mit servilem Auftreten seien geradezu zum Dienen geboren.
Gut, sind Gesichtszüge und körperliche Merkmale denn keine objektiven Merkmale? Ja und nein. Es ist vor allem der Blick des Beobachters, der wie ein Filter wirkt. Wenn nun mal ein hochgewachsener Einheimischer sich wider Erwarten doch als Hutu bezeichnet, so ist dies die bekannte Ausnahme, welche nur die Regel bestätigt. Oder man erklärt die „Abweichung von der Norm“ durch eine Durchmischung. Solche Durchmischungen sollten nach den Vorgaben des preußisch-wissenschaftlichen Schreibtischs eigentlich nicht zu oft vorkommen. Ein erstauntes Stirnrunzeln durchzieht die Zeilen der ethnografischen Kolonialberichte. Bedauernswerterweise widerstrebt das unbändige Leben in seiner Mannigfaltigkeit doch ab und an der sauber formulierten Theorie. Und je mehr man nach den postulierten Merkmalen sucht, desto mehr findet man sie. Das Bewusstsein scheint die Ausnahmen auszufiltern. Sucht man nur nach Bestätigung in der Empirie – spätestens beim zehnten Mal wird sich schon ein Beleg finden, der die davor registrierten Fälle zur Ausnahme herabstuft.
Das ist nun mal das Problem der empirischen Forschung. Ganz ohne Interpretation einer Ordnung scheint es nicht zu gehen. Ganz ohne Brille zu sein, wie sehr sich das auch der objektive Forscher wünschen mag, ist offensichtlich ein Ding der Unmöglichkeit. Oder anders ausgedrückt: Der vorhandene Begriffsapparat, (sprachlich, durch Erfahrungen oder inhärent durch sogenannte Vernunfturteile vorgeprägt – das ist eine andere Debatte) wirkt wie ein Filter, durch den die empirischen Daten hindurch müssen. Gleichzeitig gehören diese Filter jedoch zur menschlichen Grundausstattung und können schlecht als ephemer Hinzugekommenes weggedacht werden. Erschütternd nur, wenn Kolonialreisende, von der Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit zutiefst erschüttert („Ja wo sind denn hier die sauberen Grenzen Europas?“) unter Zuhilfenahme „wissenschaftlicher“ Kategorien „Ordnung in das Chaos“ bringen wollen.
Erstaunlich sind die Parallelen der aufgefundenen ethnischen Differenzierung mit dem eigenen Selbstbild. Wer mögen wohl am Ende des 19. Jahrhunderts die zum Herrschen geborenen Aristokraten sein und wer die zum Dienen geschaffenen? In einem von preußischer Militärtradition geprägten Neueinheitsdeutschland dürfte dies wohl auf der Hand liegen.
Teile und herrsche in der belgischen Kolonialzeit
Die Theorie der hamitischen Abstammung wurde auch von den 1919 folgenden belgischen Kolonialherren fortgepflegt. Die Vorteile für eine indirekte Kontrolle der Gesellschaft durch „Herrenrassen“ lagen zu sehr auf der Hand. Den Tutsis wurden der soziale Aufstieg und der Zugang zu Machtpositionen weiter erleichtert. 1933/34 wurde in Ausweispapieren die angebliche ethnische Zugehörigkeit zu einer der beiden Gruppen festgehalten. Ein durchaus bezeichnendes Datum, nach dem die Belgier, zweifellos später Opfer der Nazi-Expansion, ihren Unterdrückern in manchen Bereichen zeitlich durchaus voraus waren!
Mit der Unabhängigkeit 1961 waren Fremdzuschreibungen und Selbstbilder weitgehend internalisiert. Die Frustration unter den Hutu nahm jedoch nicht ab. Mit der Zeit entstanden extremistische Gruppierungen, deren Daseinsberechtigung sich ausschließlich aus dem Hass auf die „arroganten“ Tutsis der herrschenden Schichten legitimierte. Fast vergessen haben wir, darauf hinzuweisen, dass andere Unterschiede zwischen den beiden sogenannten Volksgruppen gar nicht auszumachen sind. In Afrika, sprachlich äußerst diversifiziert, wo es Länder mit Hunderten von Sprachen (und noch mehr Dialekten) gibt, stellt Ruanda eine seltene Ausnahme dar. Ruanda ist sprachlich gesehen fast vollständig homogen. Beide Volksgruppen sprechen Kinyarwanda. Ähnlich liegt übrigens der Fall im Nachbarland Burundi, das vergleichbare Genozide innerhalb einer sprachlich einheitlichen Bevölkerung aufweist. Zur Unterscheidung der beiden Ethnien bleibt also nur die imaginierte Gruppenzugehörigkeit, die typischerweise in der grauen Vorzeit angesiedelt wird. Schon seit „Urzeiten“ seien die Tutsis Viehhüter und die Hutus Ackerbauern. Was sich durch lange Geschichte auszeichnet und dessen Spuren sich in der Vergangenheit verwischen, scheint auch von besonderem Adel zu sein. Die Parallelen zu den im 19. Jahrhundert in Dichter- und Denkerkreisen gepflegten Selbstbildern der Deutschen als uralter Kulturnation, die in direkter Abstammung von den Germanen unvergleichliche Anlagen in sich trage, sind augenfällig.
In den 60er-Jahren kommt es zu einer stärkeren Spaltung der Gesellschaft. Tutsis erleben apartheidartige Zustände. Extremisten werfen mit den aus Europa bekannten Legitimationsvorwürfen um sich: hier die angeblich „ursprünglichen“ Einwohner der Hutus und dort die landesfremden Eindringlinge der Tutsis, die nun ihrerseits für die Rückgewinnung ihrer altehrwürdigen Rechte kämpfen wollten. Erste Massaker werden in den 50er und 60er-Jahren durchgeführt; Vertreibungen der Tutsis sind die Folge. Diese reagieren mit der Bildung von Rebellengruppen, die aus den Nachbarländern heraus Gegenangriffe starten. Ab 1990 beginnt der eigentliche Bürgerkrieg. Auf Hutu-Seite wurde der Mythos vom jahrhundertealten Kampf um Emanzipation (“Hutu-Power“) verdrängt und durch den immer unverhohlener erklingenden Ruf nach vollständiger Auslöschung der Tutsis ersetzt.
Der Völkermord von 1994
Im Radio-Télévision Libre des Mille Collines, denn „das Land der 1000 Hügel“ wurde Ruanda genannt, erscholl in den Tagen des Völkermords mehrmals täglich der Aufruf: „Tod! Tod! Die Gräben sind erst zur Hälfte mit den Leichen der Tutsi gefüllt. Beeilt euch, sie ganz aufzufüllen!“ Das Radio sendete konkrete Mordaufrufe. Zu den später Verurteilten gehörte auch ein Belgier, der dort moderierte. Das Erstaunliche bei diesem Genozid ist neben der Brutalität vor allem die kaltblütige Systematik. Es war also keine impulsive Eruption von Gefühlen in einem Konflikt, in dem sich jeweils die andere Seite durch „preemptive strikes“ vor befürchteten Angriffen der anderen schützen wollte, sondern eine von langer Hand geplante Eliminierung. Afrika mag im 20. Jahrhundert durch viele Konflikte auch blutigster Art gekennzeichnet zu sein, doch dieser Genozid fällt aus der Reihe, weil er in seiner Kaltblütigkeit und Grundlosigkeit an die Machtfantasien der Schlächter von Srebrenica erinnert.
Der gesamte Genozid dauerte nur wenige Monate, genauer 100 Tage von April bis Mitte Juli 1994. Initialzündung war die Ermordung des Präsidenten Habyarimana (ethnischer Hutu) am 6.4.1994. Bereits 30 Minuten nach Bekanntwerden der Nachricht begannen die Massaker. Systematisch gingen die Angehörigen der Präsidentengarde und paramilitärischen Einheiten der „Interahamwe“ von Haus zu Haus und ermordeten jeden, von dem sie nach vorher angefertigten Listen davon ausgingen, dass er der „feindseligen“ Ethnie der Tutsis angehörte. Massakriert wurden ebenso moderate Hutus und sogenannte Kollaborateure. Die Anzahl der beteiligten Täter unter der Bevölkerung wird auf Hunderttausende geschätzt! Der Blutrausch und die Angst, bald selbst zu den nächsten Opfern gehören zu können, hatten offensichtlich eine ganze Ethnie ergriffen. Nach dem Genozid waren allein im Jahre 1997 140.000 Personen inhaftiert, denen Beteiligung am Völkermord vorgeworfen wurde.
Selbst die Religion konnte dem Rausch nicht mehr Einhalt gebieten. Auch katholische Priester wurden zu Tätern, wie Athanase Seromba, welcher 2000 Menschen in seine Kirche gelockt hatte, und danach die Hutu-Soldaten zu deren Ermordung aufrief und dabei selbst beteiligt war. Nachdem er außer Landes geflohen war, kam er lange Zeit in Italien unter, wo er als katholischer Priester unter neuer Identität weiter arbeiten konnte. Später wurde er jedoch wegen Völkermord angeklagt und verurteilt.
Dass es vom religiösen Bekenntnis her eigentlich keine feste Trennlinie zwischen beiden Ethnien gab (Katholiken, Protestanten wie in anderen Teilen Afrikas), macht das Ganze noch unvorstellbarer: weder Sprache, noch Kultur oder Religion kommen also als Indikatoren dieser Ethnisierung in Frage.
Am Schluss waren mit bis zu einer Millionen Opfer 75 % der Tutsi-Ethnie ausgelöscht. Das 100-tägige größtenteils durch Macheten und Sensen durchgeführte Blutbad endete mit dem Sturz der Regierung durch die Tutsi-Rebellen der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), die sich teils ebenfalls an die Macht massakriert hatten und der Amtsübernahme durch Paul Kagame, bis heute Präsident. Doch trotz aller Kritik, mit diesem Zeitpunkt war wenigstens innerhalb Ruandas das Schlimmste überstanden.
Und auch hier liegt eine Parallele zu Bosnien vor: das Versagen der UN-Truppen, die an der Überwachung des Friedensabkommens vor dem Genozid beteiligt waren. Alle Warnungen vor Waffenlagern und systematischer Bewaffnung der Interahamwe-Milizen waren in den Wind geschlagen worden. Bis zum Schluss wurde abgewiegelt. Mit dem Beginn des Abschlachtens drohte Kofi Annan, damals noch Leiter der UN-Abteilung für Friedenssicherung (DPKO), mit dem Abzug der Blauhelme. 1995 schrieb er über die frühzeitigen Warnungen „Wir erinnern uns nicht an irgendwelche spezifischen Berichte.“ Später entschuldigte sich Kofi Annan bei Ruanda. Mittlerweile war er bereits UN-Generalsekretär geworden.
In weiterer Folge kam es zu einer Verschleppung der Kriege in den Ost-Kongo durch ihrerseits geflohene Hutu, die sich dort weiter radikalisierten und zu erneuter Rache aufriefen. Die in den 90er Jahren an die Macht gekommenen Politiker versuchen die Ethnisierungsspirale zum Stillstand zu bringen, indem sie auf staatlich verordnete Nationsbildung und eine Überlagerung der Kategorien Hutu und Tutsi durch ein gemeinsames ruandisches Bewusstsein setzen. Dass dies gelingt, bleibt zu hoffen. Denn erst mit ihm wäre das unselige Erbe der deutschen Kolonialherrschaft und ihrer einheimischen Komplizen aus dem 19. Jahrhundert endgültig überwunden.
Bildnachweis: flickr.com, Nina R., Hotel des Mille Collines