Ein Brainstorming
Mit dem Fortschritt in Medizin und Biologie scheinen neue Möglichkeiten zur Behandlung von Krebs und sogar zur Verlangsamung oder sogar zum vollständigen Anhalten des Alterungsprozesses an sich in greifbare Nähe zu rücken. Dem lassen sich nahtlos Fortschritte in der Prothesentechnologie hinzufügen, die immer ausgefeiltere Ersatzorgane und Gliedmaßen in Aussicht stellen. Fiktionen wie die Fernsehserie „Altered Carbon“ zeigen – neben ihrer dramaturgischen Handlung – Aspekte einer Gesellschaft, in der quasi-ewiges Leben möglich ist.
Ohne auf die konkrete Handlung einzugehen, zeigt die Serie als Rahmenhandlung die Implikationen einer ins Extrem übersteigerten Zwei-Klassen-Medizin auf, in der die einen, die es sich aufgrund einer jahrhundertelangen Kapitalakkumulation leisten können, ständig brandneue Körper beziehen und in die sie ihr Bewusstsein transferieren, wohingegen die anderen, die vom wirtschaftlichen Schicksal eher benachteiligt sind, ihre Existenz in „Körpern von der Stange“ zu verlängern suchen. Völlig an den Haaren herbeigezogen erscheint dieses Szenario nicht, denn ein wenig erinnert es an die „Jenseitspolitik“ des alten Ägyptens, wo der über alle Maßen reiche Pharao ein Jahrzehntausendbauwerk benutzt, um seinem ewigen Dasein im Jenseits allen erdenklichen Komfort zu geben, die einfachen Leute jedoch mit einem einfachen Begräbnis in der Sahara außerhalb des Niltals vorlieb nehmen.
Spannend ist der Effekt, den virtuell unendliche Macht auf die menschliche Psyche hat: Alle erdenklichen Vergnügungen sind erschöpft, alle menschliche Erfahrung ist durchlebt. Jegliche Jenseitsbegriffe sind hinfällig, denn der Tod selbst ist hinfällig, und damit auch jede Aussicht auf eine Gerechtigkeit nach dem Tod. In einer sterblichen Gesellschaft gibt die Gleichheit im Tod noch einen gewissen Trost. Denn die Erinnerung an die Sterblichkeit Pharaos oder Cäsars gibt den Unterdrückten die Hoffnung eines Ausgleichs im Tod. Doch welch Hoffnungslosigkeit, welche Gefängnisse umfangen die Mehrheit der Benachteiligten? Die Aussicht auf ein quasi-endloses Leben, das am Ende doch von Gnaden der Mächtigen ist, kann nur die Aussicht auf eine Hölle von schier endloser Dauer sein.
Gedankenspiel: Was ist das Strafmaß für einen Mord in einer fast unsterblichen Gesellschaft? Um wieviel Erfahrungen und Chancen beraubt ein Mörder sein Opfer? Die Frage lässt sich einfach beantworten: Legt man die Endlichkeit menschlicher Erfahrung zugrunde – die Psychologie zeigt, dass es eine Obergrenze für Glücks- wie auch für Unglücksgefühle gibt –, kann die Bestrafung ebenfalls nur im Entzug sämtlicher potentieller Erfahrungen liegen, sprich, in der Todesstrafe. Legt man jedoch die Chancen im Sinne potentiell möglicher wirtschaftlicher Gewinne zugrunde, um die man das Opfer und damit die Gesellschaft beraubt, legt man gleichzeitig potentiell unendliche Gewinne zugrunde. Diese Frage lässt sich nicht mehr trivial beantworten. Im ersten Beispiel hat man noch ein Problem von – mathematisch gesprochen – einer endlichen Zahl an Erfahrungsmöglichkeiten bezogen auf ein unendliches Leben, was als „null“ definiert ist. Ein unendlicher wirtschaftlicher Gewinn geteilt durch ein unendliches Leben ist hingegen nicht definiert. Hier ist zu befürchten, dass auch der Phantasie hinsichtlich Strafmaß der in diesem Fall auch wirtschaftlich geprägten Obrigkeit keine Grenzen gesetzt sind.
Stichwort Erfahrungen: Würde man einen Index definieren, der die Erfahrungen über die Lebenszeit abbildet, hätten wir in unserem Zeitalter wohl die höchste Dichte an Erfahrungen pro Zeit. In Zeiten vor Massentransport und Massenkommunikation beschränkte sich die durchschnittliche Erfahrung eines Menschen auf das, was im nächsten sozialen Umfeld, sprich Dorf, möglich war. Der durchschnittliche Mensch des 21. Jahrhunderts hat viel mehr Zugang zu Erfahrungen, als dies vor ihm in der Vormoderne Dutzenden von Generationen zusammen überhaupt möglich war. Unter diesem Blickwinkel muss unsere Erfahrungsdichte unseren Vorfahren wie der Erfahrungsschatz eines ewigen Lebens vorkommen. Insofern erleben wir gewissermaßen ein nahezu endloses Leben, das dichter und bunter ist als alles, was zuvor denkbar war. Unter Anwendung dieses Maßstabs erscheint hingegen selbst das lange Leben Noahs (Friede sei mit ihm) kurz – wenn wir davon ausgehen, dass sein Leben in einem vergleichsweise primitiven Kontext mit wenig Bewegungs- und Vernetzungsmöglichkeiten stattfand, was nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Und freilich, wenn wir die Erfahrung, die Menschheit und zumindest Teile der Tierwelt vor einem großen Kataklysmus gerettet zu haben, nicht stärker gewichten als die Erfahrung, z.B. reiten zu lernen.
Was heißt das für uns? Beispiele für quasi-ewiges Leben und seine Implikationen sind in den Lebensumständen von Menschen verschiedener Zeitalter und verschiedener Erfahrungshorizonte ohnehin zu finden. Dem „dichten“ Leben eines Bürgers des 21. Jahrhunderts steht der Gegensatz von Bürgern der Dritten Welt gegenüber, deren Mittellosigkeit und Chancenbenachteiligung eine gute Entsprechung für düsterste Dystopien darstellt. Mögen auch lebensverlängernde Medizin und Forschung dazu führen, dass Menschen lange genug leben, um zu den Sternen zu fliegen, das Grunddilemma des Zugangs zu extensiviertem/ intensiviertem Leben bleibt immer noch zu lösen.
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