Fake News und Plausibilität: Wenn Informationen zu Stammessymbolen werden

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Die Welt ist fragil geworden. Oder nehmen dies nur wir so war? Zerbrechlichkeit und Angst vor Verlusten, das scheint die neue Grundbefindlichkeit zu sein. Alles scheint aus der Hand zu gleiten. Wie ein Wölkchen, das man in der geballten Hand fassen will: packt man fest zu, verflüchtigt es sich sogleich; doch ohne es zu packen, wird es ebenso rasch verschwinden. Menschen fühlen sich bedroht, nicht mal in ihrer eigenen Identität scheinen sie sicher zu sein. Alles scheint auf Luftspiegelungen und Fiktionen aufzubauen. Oder wie sonst sollte man es nennen, wenn die Menschen sich von Fake News nähren, dies auch noch wissen, nun aber keine Kraft mehr haben, aus ihrer selbstgewählten kommunikativen Isolation auszubrechen?

Oder ist es umgekehrt? Also nicht, dass alles auf Lüge aufgebaut wäre, aber dass die vom Menschen geschaffenen Institutionen und Bedürfnisse den Wahrheitsanspruch ganz unten an der Basis erodiert haben? Beides liefe letztendlich auf das gleiche hinaus.

1. Wem glaub ich was? Also dir schon gar nicht!

Fake News sind nichts Neues. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts taucht der Begriff zum ersten Mal in amerikanischen Zeitungen auf. Solange es Medien gibt, so lange gibt es auch schon Fake News. Durchstarten konnte der Begriff jedoch erst richtig im Zeitalter der sozialen Medien, als Wahrheitsansprüche privatisiert und den Launen der Menschen überlassen wurden. Die Masse der Nachrichten erdrückt uns einfach: Was nur häufig genug wiederholt wird, nimmt offensichtlich an Gewicht zu. Um sich dann nicht vom Wahrheitsanspruch der „unangenehmen“ Nachrichten verwirren zu lassen, begibt man sich doch lieber in die eigene geistige Heimat: in die eigene Blase, in das eigene Stammesterritorium, wo Anspruch und Wirklichkeit noch zusammen passen (zu scheinen). Die Auseinandersetzung mit dem anderen in seinem Geltungsanspruch erinnert an Territorialkämpfe: Die Bergkette am Horizont – das ist das Ende der bewohnbaren eigenen Welt. Hier ist Mittelerde. Drüben beginnt quasi die Barbarei, die Herrschaft des wilden Nachbarstamms, mit dem man schon seit Generationen im Kriegszustand liegt.

Warum schenken wir überhaupt jemandem Glauben? Wie wird Plausibilität erzeugt? Ist es so, dass die Fakten einem „in den Kram“ passen müssen, damit wir sie übernehmen? Ist Wahrheit damit eine Ansammlung von durcheinander gewürfelten Legosteinen, aus denen ich mir die passenden heraussuche, um mein eigenes Legoschloss zu Ende zu zimmern?

Vielleicht funktioniert es so. Ein Blick in die Umweltdebatte scheint die Spaltung in Stammeswahrheiten zu bestätigen. Und wer könnte uns dies verübeln? Wenn nicht einmal die Experten selbst auch nur annähernd einen Überblick haben über das, was wirklich Faktum in der Umweltzerstörung ist und was davon nur medialer Hype. Seit den 70er Jahren, in denen die Umweltdebatte Einzug in den Mainstream der Nachrichtenschwemme gehalten hat, polarisieren sich die Menschen in zwei Narrative: die einen, die jede weitere Nachricht über zunehmende Umweltverschmutzungen und -zerstörung offenbarungsgleich aufnehmen und in die Anhänger des anderen Stammesnarrativs, die alles als Verschwörung abtun; als eine Verschwörung, die der heimischen Wirtschaft, der Globalisierung u.a den Todesstoß zufügen solle.

Umweltzerstörung weist 2019 einen anderen Charakter auf als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die beginnende Umweltzerstörung weitestgehend sichtbar und fühlbar war: symbolisiert im rauchenden Fabrikschlot, der auf den Dächern der Industriegebiete eine graue Schicht hinterließ, der beim einzelnen Husten und Vergiftungen auslöste. Umweltzerstörung heute ist oftmals weniger direkt spürbar. Umso größer ist die Gefahr, dass alles zu einer virtuellen Debatte verkommt. Wenn niemand mehr wirklich Zugang zu den Fakten hat, sondern nur noch zu Erzählungen über Erzählungen über Forscher, von denen man behauptet, sie ständen noch in unmittelbarem Kontakt zur realen Welt (die Sprachrohre und „Propheten“ der Fakten, welche das Bindeglied zwischen Realität und Spiritualität verkörpern), dann erliegen wir der Gefahr reiner Spiegelgefechte. Der einzelne kann sich dann, überspitzt ausgedrückt, nur noch notdürftig orientieren: Stellt einer vom anderen „Stamm“ in der Debatte eine Behauptung auf, dann muss es falsch sein. Mein persönlicher Zugriff zur Wahrheit reduziert sich also auf das Ablehnen des anderen, des Stammesfremden, des „Barbaren von hinter der Gebirgskette“, um im Bild zu bleiben. Welch befreiende Wirkung also Aufklärung, Informationsvielfalt, Zugang zu Massenmedien, und neuerdings die Möglichkeiten der Eigenproduktion und Selbstinszenierung in den sozialen Medien gebracht haben, wird damit immer fraglicher.

„Aber natürlich haben wir Zugang zu den Fakten“, kann man jetzt grinsend einwenden. Beispielhaft gibt es in einem bestimmten Konflikt 50 Opfer. „Völlig übertrieben“, kann jetzt irgendjemand, der Interesse daran hat, eine andere „Quelle“ zitieren: Es seien nur 5 gewesen und diese seien auch nicht beabsichtigt angegriffen worden, sondern bedauerliche Kollateralschäden. Auf der anderen Seite kann jemand aus Eigeninteresse die Opferzahlen auf das Zehnfache steigern. Und wir sollen das nachprüfen? Ja, auch wenn man theoretisch die Möglichkeit hätte, so ist es in der Praxis dann doch nicht durchzuführen. Man ist schier erdrückt von der Fülle der Informationen. Ohnehin ist das Thema des angesprochenen Konflikts nur eines von hunderten weiteren Themen, für die man sich als aufgeschlossener Zeitgenosse interessiert zeigen sollte. Und schon schwirren die nächsten Meldungen herein: Klimakatastrophe, Polkappenschmelze ja oder nein, Insektensterben … „Wie stehst du dazu?“ „Wie positioniert du dich hier?“, so drängt sich einem die Begleitbotschaft der Nachrichtenschwemme auf. Bevor noch das erste Thema abgerundet ist, noch bevor man reinen Tisch machen und die Verursacher möglicher Fake News zur Rechenschaft ziehen konnte, wird man bereits von der nächsten Themenwelle erfasst. Wer will da nicht zynisch kapitulieren und sich ins eigene heimisch-heimelige Stammesgebiet zurückziehen?

2. Aber in der Wissenschaft – da ist es doch anders?

Wie schaut es nun innerhalb der Plausibilitätsfehden wissenschaftlicher Theorien aus, wo Expertenmilizen gegen konkurrierende Stammesverbände kämpfen? Nun hat jeder von uns gelernt, dass die Erde doch wohl nicht ernsthaft flach sein könne. Und was verschafft dieser These so starke Plausibilität? Liegt es vielleicht besonders daran, weil diese Auffassung mit einem mittelalterlichen Weltbild verknüpft wird? Doch wie schaut es mit anderen Theorien aus, so wenn die Theorie von der Welt als Hologramm formuliert wird? Tatsächlich, eine solche Theorie wird in der Wissenschaft vertreten. Wenn es dazu in Fachmagazinen heißt: „Renommierte Physiker an der Universität xy sollen erste Beweise erbracht haben, dass wir in einer holographischen Projektion leben“, dann klingt das schon plausibler. Der einzelne reagiert wahrscheinlich nach dem Prinzip des geringsten Widerstands: Warten wir mal ab, ob sich das im Mainstream durchsetzt. Wenn ja, werden wir unser Surfbrett rechtzeitig auf diese Plausibilitätswelle lenken. Sollte diese Theorie dann doch als Hirngespinst abgetan werden (wer das entscheidet, könnte an reinen Machtverhältnissen liegen), werden wir schnell ableugnen, sie jemals in Erwägung gezogen zu haben. Mittelalterliche, „abgefahrene Verschwörungstheoretiker“, das wollen wir ja wohl nicht wirklich sein; zumindest nicht durchgehend.

3. Den Bock zum Gärtner machen?

Bei der kürzlich aufgeflammten Debatte um Copyright und die Reform des EU-Urheberrechts prallen erneut verschiedene Narrative aufeinander: Das Narrativ der „Netzaktivisten“ (für manch einen per se der Beleg für Ehrlichkeit, also die richtige Stammestätowierung), der letzten ehrlichen demokratischen Kämpfer für die Freiheit des Internets und gegen Zensur. Auf der anderen Seite müssen also bösartige Konzerne verortet werden, welche krakenartig das Internet als Refugium der Freiheit des Wissens in unserer trüben Welt (die vielleicht gerade aufgrund des Internets so trübe ist) ersticken wollen.

Interessant aber auch das Gegennarrativ derjenige, die den Begriff des Urheberrechts und geistigen Eigentums mit aufklärerischem Pathos versehen und die Vorwürfe umdrehen: „Die Mörder des Internets sind nicht jene, die die geplante EU-Urheberrechtsreform verteidigen, sondern Facebook, Youtube & Co.“ so schreibt es die Süddeutsche Zeitung (https://www.sueddeutsche.de/politik/prantl-urheberrechtsreform-artikel-1.4381506).

Der zitierte Link existiert übrigens wirklich. Falls er doch nicht funktionieren sollte, wer weiß schon, woran das wirklich liegt? Eine Finte? Feindliche Zensur? Wird ohnehin keinen interessieren, wenn man bereits zum nächsten Thema switcht. Mehr Zeit kann man dem Thema auch nicht widmen, das ist Aufgabe der (namenlosen, anonymen) Experten, in die man gläubiges Vertrauen setzt. Wer hier nun wen linkt, auf eine falsche Fährte lockt und in der Debatte verheizt, das mag der entscheiden, der wirklich einen tieferen Einblick in die Funktionsweise des Internets hat. Und wer das wirklich ist, ist wiederum Gegenstand anmaßender Behauptungen. In der Wirklichkeit begegnet man jedenfalls nur Menschen, die virtuelles Wissen über virtuelle Welten haben bzw. zu haben vorgeben.

Das wirkt genauso glaubhaft wie das Versprechen auf sicheres Internet. Ob der Erfinder des „ultimativen Spuren verwischenden nicht zu überwachenden Browsers“ nicht vielleicht doch der Obertroll ist? Ob man damit nicht den Bock zum Gärtner macht, so wie man es früher gesagt hätte? Und ob das Virenschutzprogramm nicht wirklich selbst die Mutter aller Viren ist, diesen nagenden Zweifel wird wohl keiner ganz los werden. Denn auch in der Wirklichkeit scheinen wir ja umringt zu sein von Experten, die regelmäßig Probleme kreieren, um uns anschließend von ihnen zu retten: Die arbeitsteilige Gesellschaft als gigantischer Maskenball.

4. Hadith: Der Isnad als Anker der Plausibilität

Düster und dystopisch mag die Gegenwart jetzt erscheinen. Überzeichnet und bewusst übertrieben, dass dürfte klar sein. Übertreibungen ermöglichen oftmals eine Fokussierung des Blicks. Und nach der Fokussierung des Blicks sollte ein entspannterer differenzierter Weitblick wieder einen Zugang zum größeren Panorama bieten. Vielleicht erscheinen einem nach dieser Überzeichnung manche Formen der Kommunikation doch anders. Das lange Zeit als „rückständig“ beschriebene System der oralen Tradition hat möglicherweise doch etwas Befreiendes und Menschlicheres an sich.

Orale Traditionen leben von Face-to-Face-Beziehungen. Klar, ging eben früher nicht anders, als die Menschen noch an ihre unmittelbare Umgebung gebunden waren, als sie in kleinen Gruppen auf reale Gemeinschaft angewiesen waren. „Unerlöst“ waren sie, so lautet das Narrativ frei nach der „Offenbarung der sozialen Medien“. Vielleicht ist nicht das Wort Fleisch geworden, aber noch besser: es hat sich von der Cloud herunter im USB-Stick inkarniert. Mag sein, dass es früher nicht anders möglich war, aber auf jeden Fall war Face-to-Face-Vermittlung ein nicht zu unterschätzendes System der lückenlosen Absicherung.

Im Falle der islamischen Wissensdisziplinen müssen grundlegende Voraussetzungen gegeben sein, dass man überhaupt von einer Überlieferungskette sprechen kann: vertrauenswürdige Leute, für deren Vertrauen wieder andere garantieren müssen, sodass mit zunehmender Menge eine bewusste Einigung auf eine Falschaussage immer unwahrscheinlicher wird. Tradentenketten liegen in Buch-zu-Buch-Kommunikation und erst recht in den sozialen Medien nicht vor! Oder wer würde ernsthaft nachschlagen, wenn für die Bekräftigung der obigen Tatsache die folgende Fußnote angefügt wäre: „Vgl. Oral Tradition as means of communication in modern societies. Herbert W. Miller, Michigan Press. New York 1985. Vol. II, 35ff.“ Ob es wirklich eine in New York beheimatete „Michigan Press“ gibt, wird wahrscheinlich auch keiner kontrollieren. Der Leser mag das jetzt nachholen, wir haben es jedenfalls nicht getan.

Bei einer Tradentenkette (Isnad) muss eine ununterbrochene Abfolge vorliegen. Es muss belegt sein, dass Überlieferer A und B miteinander in Kontakt und Austausch gestanden haben. Auch dies fällt im Zeitalter der sozialen Medien fort. Vielleicht konnte lange Zeit vieles gut gehen, weil beim Übergang von der Face-to-Face-Kommunikation über die wissenschaftliche Text-zu-Text-Kommunikation innerhalb einer scientific community hinein ins „gelobte“ Land der Isnad-befreiten virtuellen Kommunikation lange Zeit noch gewohnheitsmäßige Bindungen vorlagen. Um im Bild zu bleiben: als sich die ersten auf die hohe See der sozialen Medien wagten, segelten sie noch lange Zeit in Sichtweite des Ufers. Im Falle eines Sturms konnte man sich noch rechtzeitig ans Ufer retten. Was aber, wenn eine Generation mitten im Ozean auf schwankenden Bretterkanus herangewachsen ist und niemals Festland, also in unserem Falle die Anbindung an Realität und greifbare Fakten, unter ihren Füßen gespürt hat?

5. Keine Glaubwürdigkeit ohne den menschlichen Faktor

Den menschlichen Faktor aus der Kommunikation zu verbannen ähnelt ein bisschen dem ziel- und orientierungslosen Herumschippern auf offener See: Steuern wird hier wahrscheinlich unmöglich geworden sein, wenn die Wogen heftig genug geworden sind, wenn Plausibilitätsansprüche auf beiden Seiten mit Unerbittlichkeit vorgetragen werden, wenn Trolle und Bots das Ruder in die Hand zu nehmen drohen und verängstigte, eingeschüchterte Hobbits dem Kampf der Giganten zuschauen. Sollte man sich in einem solchen Fall nicht doch sicherheitshalber auf die Seite des Stärkeren schlagen? Bevor man selbst mundtot gemacht wird, wäre es vielleicht ratsamer im Lager der siegreichen „Mundtotmachenden“ zu sein?

Es macht Sinn, warum zu den ersten Formen der philosophischen Auseinandersetzung und der Wahrheitssuche der Dialog gehörte. Dem anderen auf Augenhöhe begegnen, in einem Gespräch, bei dem man körperlich anwesend ist, bringt eine ganz andere Anbindung an Glaubwürdigkeit als durch maschinenvermittelte Kommunikation.

6. Face-to-Face als Kontrollmechanismus

Die Bedeutung von Face-to-Face Kommunikation wird nicht aufhören. Sie kann nicht aufhören, wenn wir nicht zum reinen Zuschauer degradiert werden wollen. Sie ist und bleibt der einzige Kontrollmechanismus, den wir haben: Körpersprache mag nicht den direkten Zugang zur inneren Überzeugung des Menschen liefern, der dürfte klar sein, doch was sonst bleibt dem Menschen übrig? Sich auf Emoticons verlassen, auf Zitate von Zitaten über Zitate, die ohnehin keiner mehr kontrollieren wird?

Doch um aus der digitalen Echokammer auszubrechen und zum Gespräch zurückzufinden, braucht es etwas Mut: den Mut, den eigenen Kokon zu durchbrechen, das eigene Spinnennetz von Plausibilität infrage zu stellen. Dazu müsste man aber auch immer zugeben, dass man sich womöglich geirrt hat, dass man den anderen braucht, um seinen eigenen Irrtum zu erkennen. Dann müsste man zugeben, dass der andere ein Spiegel ist. Doch vielleicht will man das gar nicht! Die sozialen Medien jedenfalls werden uns nicht anregen, den anderen als Spiegel und Gesprächspartner zu betrachten, wenn es dort mehr um Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung durch den anderen geht. Vielleicht steckt im häufig verwendeten Begriff „Face-to-Face“ vielleicht doch ein bisschen mehr an Wahrheit. Klar, die Wahrheit selbst wird man im anderen Gesicht nicht finden, da muss man schon sich selbst betrachten. Aber wo, wenn nicht hier, im Gesicht des anderen, zeigt sich wenigstens die ehrliche Überzeugung am plausibelsten?

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Studium der Übersetzungswissenschaft, Islamkunde, Soziologie und allgemeinen Religionswissenschaft.

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