Geistige Kolonialisierung durch kollektive Schuldzuschreibung: „Die Brücke über die Drina“

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Herbst 2019: Die Diskussionen über den Nobelpreisträger Peter Handke nehmen kein Ende. „Ein mutiger Mann, der auch mal aneckt – und solange man die Kunst von seinen privaten politischen Einstellungen trennt, sei das nicht weiter schlimm“. Solche und ähnliche Verbiegungen sind der Tenor derjenigen, die Handkes Parteinahme für den serbischen Diktator Milošević legitimieren wollen. „Mutig und eigenständig“ soll es also sein, wenn sich ein Schriftsteller zum Begräbnis eines Volksverhetzers begibt. Wäre interessant, zu erfahren, ob das für alle Diktatoren gilt oder doch nur für ganz bestimmte? Theoretische Beispiele kann jeder selbst konstruieren. Spätestens hier wird klar, dass künstlerische Leistungen kaum ernsthaft von politisch-gesellschaftlichem Engagement getrennt werden können. In der Begründung des Nobelpreises für Literatur wird dementsprechend für den Preisträger das Kriterium genannt, „das Beste in idealistischer Richtung geschaffen“ zu haben.

Um zu sehen, dass Missgriffe bei Nobelpreisen offensichtlich auf eine lange Tradition zurückblicken, sei hier ein anderer Preisträger erwähnt: Der jugoslawische Autor Ivo Andrić, der 1961 den Preis für seinen Roman Die Brücke über die Drina erhielt. Nach den schrecklichen Ereignissen des Genozids an den Bosniern in den 90er Jahren wäre eine Aufarbeitung der Verleihung notwendig gewesen, um zu sehen, welche geistige Vorarbeit (eher „Vorhetze“) in der jugoslawischen Vorkriegsliteratur betrieben worden war. Nichts ist geschehen. Stattdessen scheint sich die Geschichte im Jahre 2019 zu wiederholen. Wieder steht der Balkan im Zentrum. Wieder geht es um aggressive Nationalismen, um historische Schuldzuschreibungen.

Wie perfide Literatur eingesetzt werden kann, das zeigt die Brücke über die Drina. Literarisch mag es ein Meisterwerk sein. Doch was bleibt übrig, wenn das gesamte Werk auf der Verteufelung einer einzigen Ethnie aufgebaut wird? Der gesamte Roman kreist um das „Problem“ der Bosniaken: einer Ethnie, deren Daseinsberechtigung abgestritten wird. Für Ivo Andrić ist das Bosniakentum nichts anderes als eine Fehlentwicklung der Geschichte.

Višegrad: Die Brücke als das ultimative Böse

Wovon handelt die Brücke über die Drina? In einer ersten Lesung könnte man denken, es gehe um eine Beschreibung des Unrechts, das den Serben nach der osmanischen Eroberung widerfahren sei. Also nichts Neues für die serbische/jugoslawische Literatur. Die Türken werden als die Verkörperung des schlechthin Bösen beschrieben – auch das ist bekannt. Eine tiefere Lesung zeigt, dass das eigentliche Feindbild diejenigen Südslawen („Bosniaken“) sind, welche sich mit den Türken arrangierten und durch ihre Konversion zum Islam den Bruch mit dem Serbentum vollzogen. Sie sind die Verräter in reinster Form. Ohne sie wäre die glorreiche serbische Geschichte anders verlaufen; die Aufstände gegen ihre „Unterdrücker“ allesamt geglückt.

Im Zentrum des Romans steht die Brücke von Višegrad. Eine Brücke, die heutzutage gerne als eine der positiven Hinterlassenschaften der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan gesehen wird. Ivo Andrić dreht dies herum: die Brücke ist das Symbol für das Böse. An ihr wird das Narrativ der serbischen Opferrolle festgezurrt.

Die Brücke erscheint als Gegenbild zum Natürlichen, das sich ihrerseits in der „treuen“ und „reinen“ serbischen (Ur-)Bevölkerung manifestiert. Die Brücke bringt alles Unnatürliche in das Land. Statt einen Nutzen für die dort siedelnde Bevölkerung aufzuweisen, dient sie nur als Rädchen in der osmanischen Unterdrückungsmaschinerie. Über sie werden die „reinen“ Söhne des Serbentums nach Istanbul abtransportiert.

Es ist die Gier der Unterdrücker, die die Menschen dazu treibt, eine Brücke zu bauen: mittels der Frondienste der Landbevölkerung. Auf dieser Brücke finden entsprechend die Hinrichtungen der Aufständischen statt. Außer den Türken haben nur die in den Städten siedelnden Bosniaken – die zum Islam konvertierten Slawen – einen Nutzen. Die kosmopolitischen Städte sind für den Nationalismus Andrićs ein Gräuel, ein Eingriff in die natürliche Ordnung der Völker. Wer Völker vermischt, der versündigt sich an der Natur.

Andrić versucht mit nationalistischer teils auch mit sozialistischer Vorgehensweise Religion zu dekonstruieren. Aufrichtige Religiosität könne es bei Muslimen nicht geben. Alles ist vorgespielt, religiöse Phrasen werden nur zur Unterdrückung der Menschen eingesetzt. Logisch, wenn das nationalistische Narrativ sich nur um die eigene (serbische) Opferrolle dreht, dass die Gegenseite nicht schwarz genug gezeichnet werden kann. So lässt Andrić den Hauptbeauftragten des Brückenbaus äußern: „Vermutlich sind euch bereits vor meiner Ankunft Gerüchte über mich zu Ohren gekommen, und ich weiß schon, daß diese Gerüchte weder gut noch angenehm sein können. Wahrscheinlich habt ihr gehört, daß ich Arbeit und Gehorsam von jedem verlange, dass es meine Art ist, jeden zu schlagen und zu erschlagen, der nicht arbeitet, wie es sich gehört, und der nicht ohne Widerrede gehorcht, daß es die Worte ‘es geht nicht‘, ‘das haben wir nicht‘ bei mir nicht gibt, daß es bei mir für das geringste Wort um den Kopf geht, kurz gesagt, dass ich ein erbarmungsloser, unheimlicher Mensch bin. Ich will euch sagen, daß diese Gerüchte weder erdacht noch übertrieben sind. (…) Ich vertraue auf Allah, daß ich auch diese Arbeit vollenden werde, zu der ich entsandt wurde, und ich hoffe, dass mir, wenn ich nach vollendeter Arbeit von hier fortgehe, noch schlimmere und noch schwärzere Gerüchte vorangehen werden als die, welche zu euch kamen.“ (Ausgabe 1953, Übers. Ernst Jonas S. 24 f.)

Andrić bedient sich eines interessanten Amalgams aus serbisch-nationalistischem Chauvinismus mit sozialistischem Anklang. Der Roman erschien genau nach dem Zweiten Weltkrieg in der Zeit, als der Sozialismus unter Tito die Macht in Jugoslawien erlangte. Und im Sinne einer Neuordnung des südslawischen Völkerreichtums erfüllt Andrić gehorsam seine ideologische Aufgabe: Welcher Rang soll welcher Ethnie eingeräumt werden? Wer hat ein Recht auf kulturelle Eigenständigkeit und wer nicht?

Der Konvertit als Verräter

Übergänge, Mischformen, Hybrides – all dies darf es für Andrić nicht geben. Das neue Jugoslawien muss sauber geordnet sein. Die Kultur der Bosniaken, welche sprachlich südslawisch aber religiös islamisch ausgerichtet ist, kann es nicht geben. Interessant ist, dass Andrić selbst ein Seitenwechsler war. Ursprünglich stammte er aus einer katholischen Familie, müsste also nach damaligem Verständnis als kroatisch gelten. Bereits im alten Königreich Jugoslawien hatte er sich dem Serbentum verschrieben und dies im neu gegründeten sozialistischen Jugoslawien fortgeführt; denn auch dort saßen unter dem Deckmantel der sozialistischen Völkergleichheit die Serben an den Schalthebeln der Macht.

Der Erbauer der Brücke über die Drina Mehmed Paša Sokolović (1505 -1579) wird im Roman pikanterweise von einem Derwisch ermordet. Interessant, wo trotz aller Feindschaft und Ablehnung des Islams gewöhnlich die Derwische als Vertreter eines „gemäßigten“ Islams am ehesten auf Wohlwollen gestoßen. Wenn sich auch dieser Derwisch als Mörder entpuppt, ist die Botschaft klar: Dem obersten Verräter, dem Brückenbauer, wird die eigene Religion zum Verhängnis: „Und wie er so mit entblößter Brust und barhäuptig, blutig, verkrampft und eingefallen dalag, glich er mehr einem alten zu Tode geprügelten Bauern aus Sokolovići denn dem gestürzten Würdenträger, der noch bis vor einigen Minuten das Türkische Reich gelenkt hatte.“ (S. 80)

Hinter jedem Bosnier verbirgt sich also eigentlich ein serbischer Bauer. Aber nicht der Serbe in seiner grundlegend reinen Natur, sondern der Komplize der Macht, der Verräter, der aus Habgier seine ehemaligen Glaubensbrüder auspresst und für die Besatzer arbeitet.

Von „Neutürken“ und anderen Aufsteigern

Bosniaken werden im Roman fast durchgehend mit der beleidigenden Bezeichnung „Neutürken“ bezeichnet. Für Andrić sind sie lediglich neureiche Emporkömmlinge und damit im Grunde der degenerierte und „bösartige“ Anteil der slawischen Bevölkerung. Sollte man also Trauer empfinden, wenn diese unwürdige „Nicht-Ethnie“ mit der Neugründung Jugoslawiens zum Verschwinden verurteilt sein sollte? Kein Volk geht hier zu Grunde, sondern ein Unfall der Geschichte wird bereinigt. Dort, wo vor 500 Jahren der Zug aus dem Gleis geraten war, als die Verräter des Serbentums sich mit den Türken verbündeten, dort soll der Zug wieder auf Schiene gesetzt werden. Ein nationalistisches Narrativ, das beim Leser schlimmste Vorahnungen hervorrufen müsste; aber immerhin so überzeugend, dass es für den Nobelpreis reichte.

An der historischen Brücke über die Drina, der Brücke von Višegrad, vollzogen sich nach dem Ende des osmanischen Reichs zahlreiche Massaker an der muslimischen Bevölkerung. Ebenso im Zweiten Weltkrieg und erneut in den 1990er Jahren: Wieder waren es die marodierenden Banden der Tschetniks, welche sich diese Stelle aussuchten, um ihren Rachefeldzug durchzuführen. Rache an wem? An den Nachkommen von Menschen, deren „Verbrechen“ darin bestanden, dass ihre Vorfahren vor Jahrhunderten zum Islam konvertiert waren!

Volksverhetzung in kraftvoll-poetischer Sprache?

Literatur sollte nach dem eingangs erwähnten Zitat dem gebühren, der „das Beste in idealistischer Richtung geschaffen“ hat. Was jedoch war die Wirkung dieses Romans? Sind die Parallelen von Andrićs völkerverachtendem Roman und die Vernichtung der Bosniaken 1992-95 wirklich zu übersehen? Kann in einem Roman die literarische Form von ihrem gesellschaftlichen und moralischen Appell getrennt werden? Kann ein Aufruf zur Vernichtung eines Volkes lyrisch und episch genannt werden? Die literarischen Vorwegnahmen sind frappierend: So lässt der Autor einen von den Osmanen hingerichteten Serben in seinem Todeskampf schreien „Türken auf der Brücke … wie Hunde sollt ihr verrecken … wie Hunde umkommen …!“ (S. 54). Eine erstaunliche Parallele: Zur Zeit des 2. Weltkriegs wurden genau an dieser Brücke Menschen mit muslimischen Namen abgeschlachtet; und diese bosnischen Muslime nannte man schlichtweg „Türken“. In diesen Jahren saß Andrić in Belgrad und verfasste seinen Roman. Kann hier nur von Naivität ausgegangen werden? Und genau an der gleichen Stelle vollzogen sich die Massaker der 90er Jahre.

Der Bosniake als kranker Stotterer

Andrićs Roman umspannt einen Zeitraum von 400 Jahren. Die Brücke wird zum Dreh- und Angelpunkt der gesamten serbischen und bosnischen Geschichte überhöht. Eine interessante Stelle findet sich bei der Beschreibung der Umbrüche, welche mit der österreichisch-ungarischen Okkupation eintraten. In einer Schlüsselszene werden die Vertreter der drei Religionen beschrieben, welche bei einer Zeremonie nebeneinander sitzen. Nun darf man einer literarischen Fiktion nicht vorschreiben, wie Personen beschrieben werden – sicherlich sollte ein Autor hierin frei sein. Doch was bringt den Nobelpreisträger zu einer dermaßen platt-rassistischen Stereotypisierung? Zuerst das Zitat über den orthodoxen Popen:

„Weder vor noch nach ihm hat es jemals unter den Städtern einen Mann gegeben, der so sehr die allgemeine Achtung genießt und ohne Unterschied des Glaubens, des Geschlechtes und der Jahre ein solches Ansehen besitzt wie dieser Pope, den sie alle von alters her „Großvater“ nennen. Für die ganze Stadt und den ganzen Kreis ist er die Verkörperung der serbischen Kirche und alles dessen, was das Volk als Christentum bezeichnet und ansieht. Und noch mehr: das Volk sieht in ihm das Urbild des Priesters und des Ältesten überhaupt, so wie man sich ihn in dieser Stadt und unter solchen Behältnissen vorstellt. Er ist ein Mann von hoher Gestalt und ungewöhnlicher Körperkraft, nicht besonders schreibkundig, aber mit weitem Herzen, gesundem Verstand und einem heiteren und freien Geist. Sein Lächeln entwaffnet, beruhigt und ermutigt; es ist das unbeschreibliche und unschätzbare Lächeln eines kraftvollen, edlen Menschen, der mit sich selbst und allem um sich in Frieden lebt.“ (S. 152).

Und nun das Gegenbeispiel. Der muslimische Vertreter:

„(…) Mullah Ibrahim, ein großer magerer, vertrockneter Mann mit schütterem Bart und herabhängenden Schnurrbart. Er war nicht viel jünger als Pope Nikola, hatte eine große Familie und einen schönen Besitz, den ihm sein Vater hinterlassen, aber er war so nachlässig, mager und schüchtern, daß er mit seinen kindlichen blanken blauen Augen eher irgendeinem Einsiedler und einem armen frommen Pilger denn dem Višegrader Hodscha und geistlichen Würdenträger glich. Mullah Ibrahim hatte ein Gebrechen: er stotterte, und zwar sehr heftig und andauernd.“ (S. 153)

Das ist er also, der Vertreter des Bosniaken: Ein Stotterer. Eine kranke Persönlichkeit. Wie sein ganzes Volk ein Ergebnis von Missbrauch und verstörender Umerziehung, so auch er. Wie eine Lichtgestalt hebt sich von ihm der reine und gutmütige Vertreter des Serbentums ab. Wie könnte man solchen Personen Böses unterstellen? Und wenn nun der Vertreter des „Reinen“ das „Unreine“ ausmerzt – macht er nicht lediglich eine geschichtliche Fehlentwicklung rückgängig? Wem sollte man hier Vorwürfe machen?

1961 führte ein solches Werk zu einem Nobelpreis für Literatur. Milan Lukić machte 1992 Ernst. Er ist der Hauptverantwortliche für die Gräueltaten von Višegrad. Und offen sprach er darüber, was sein Lieblingsbuch gewesen sei. Es wäre müßig, den Titel hier zu wiederholen.[1]

2019 wird erneut ein Nobelpreis verliehen: einem Schriftsteller, der Völkermörder in Schutz nimmt; Völkermörder, welche die Vorgaben des ersten Nobelpreises konsequent ausgeführt hatten.


[1] https://genocideinvisegrad.wordpress.com/2009/03/27/%E2%80%98psychological-portrait%E2%80%99-of-milan-lukic/


[1] .

Bildnachweis: https://theculturetrip.com/europe/bosnia-herzegovina/articles/top-things-to-see-and-do-in-visegrad-bosnia/

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About Author

Studium der Übersetzungswissenschaft, Islamkunde, Soziologie und allgemeinen Religionswissenschaft.

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