Filme und Serien bieten eine besondere Möglichkeit des Eintauchens in die virtuelle Welt. Seit der Ausstrahlung des ersten Films 1895 gewann die Welt hinter der Linse an Bedeutung und wurde zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor in vielen Ländern. Besonders in den letzten Jahren, in denen oft mehrere hunderte Millionen in einzelne Hollywoodblockbuster gepumpt wurden und Streamingdienste das normale Fernsehformat beinahe ersetzt haben, ist der Drang nach virtuellen Geschichten nicht zu bändigen.
Doch geht es in Filmen nur um Geschichten, die dem eigenen Vergnügen dienen? Sind es nur Erzählungen, die in einer erfundenen virtuellen Welt stattfinden und in denen der Zuschauer dem Hauptdarsteller bei seinem Abenteuer eine kurze Zeit folgt und dann wieder in das wahre Leben zurückkehrt? Vielleicht ist dies bei wenigen Filmen und Serien der Fall, jedoch nicht bei der Mehrzahl. Die Welt hinter der Linse ist heute gefüllt mit ideologischen, politischen, religiösen, ethischen und soziologischen Aspekten. Die Filmreihe Die Tribute von Panem sind nichts anderes als eine Darstellung des Endstadiums des Kapitalismus und bedient sich marxistischer Ideen für ein Happy End. Avengers – Infinity War dreht sich im Grundkern weniger um Superhelden und mehr um die ethischen Konzepte Kants und des Utilitarismus auf die Frage: „Wie viel ist ein Menschenleben wert?“ Selbst bei den Schlümpfen lassen sich Konzepte des Kommunismus erkennen. Diese Aspekte und Kerne der Geschichtserzählung können einen starken Einfluss auf unsere Denkweisen und unser Verhalten haben.
Dehumanisierung: Eine Begriffserklärung
Dehumanisierung ist nichts anderes als die Entmenschlichung von bestimmten Menschen bzw. Gruppen. Der Person oder der Gruppe wird die Norm „Mensch-Sein“ abgesprochen. Morton Deutsch erläutert, dass besondere wirtschaftliche oder politische Missstände zu einer Suche nach Sündenböcken führen. Oft wird dann eine bestimmte Gruppe moralisch dämonisiert, dehumanisiert und letztendlich als eine Gefahr für die Gesellschaft erachtet. Oft spielen dabei Sprache, Geschlecht, Aussehen, soziale Stellung und Religion eine Rolle. Laut dem Sozialpsychologen Herbert Kelman muss eine Person zwei Besonderheiten aufweisen, um als „Mensch“ betrachtet zu werden: Identität und Gesellschaft. Unter Identität versteht Kelman die Zuschreibung und Überzeugung, dass die Einzelperson in der Lage ist, unabhängig, unbeeinflusst und von selbst Entscheidungen zu treffen. Kelmans Konzept der „Gesellschaft“ erklärt die Menschheit als „eine vernetzte Gruppe von Individuen, die sich um einander kümmert, die einander ihre Individualität anerkennt und die Rechte der Anderen akzeptiert“. Aus dieser Gruppe ausgeschlossen zu werden bedeutet, nicht in ihre moralische Vorstellung der Gerechtigkeit zu passen. Die Abschreibung einer der beiden Besonderheiten bedeutet, dehumanisiert zu werden.
Wichtig zu erwähnen ist, dass verschiedene Stufen der Dehumanisierung existieren. Es kann von „milder“ und „extremer“ Dehumanisierung gesprochen werden. Während Mord, Vergewaltigung, Folter und Genozid zur Kategorie „extreme Dehumanisierung“ zugeordnet werden können, fallen der Rest, wie Marginalisierung usw., unter die Kategorie „milde Dehumanisierung“.
Hollywood und Ethik
Es ist also kein Wunder, dass schon die Nationalsozialisten Filme für ihre Zwecke missbraucht und somit den Dehumanisierungsprozess verstärkt haben. Einige würden jetzt vielleicht argumentieren: „Ja aber das waren doch die Nazis! Die Filmindustrie heute ist nicht so verdorben und dehumanisiert sicher keine bestimmten Gruppen!“
Ist dies wirklich so? Ein Blick in einige Hollywoodblockbuster der letzten Jahre beweist das Gegenteil. In vielen Hollywood-Filmen, die oft dem Actiongenre zugeschrieben werden, gibt es einen groben Ablauf. Der Protagonist ist der Held der Geschichte. Er ist ein weißer Amerikaner, der oft aus dem Bereich für Sicherheit (Militär, Polizei, Geheimdienst etc.) kommt und sein Land liebt. Die Antagonisten sind meistens Personen, die eine andere Hautfarbe, Religion oder generell ein anderes Aussehen haben und einen Hass auf das Land des Protagonisten verspüren. Ab und zu wird versucht, eine Erklärung für den verspürten Hass des Antagonisten zu liefern, die jedoch sehr kurz und banal dargestellt wird, denn der Dehumanisierungsprozess muss fortgesetzt werden, damit keine Sympathien für den Antagonisten entstehen. „Das ist typisch für die Amerikaner!“ würden jetzt manche meinen, jedoch läuft es so in allen Filmstudios der Welt ab. Die Geschichtserzählung ist in solchen Fällen immer subjektiv und dehumanisierend für den Antagonisten, der kein Teil der eigenen Gruppe ist. Der einzige Unterschied der anderen Filmstudios zu Hollywood ist das Filmbudget.
Diese Darstellung und Geschichtserzählung beeinflusst indirekt das Weltbild des Publikums. Das Teilen in „Wir und die Anderen“ und die Dehumanisierung ganzer Volksgruppen hat einen Einfluss auf das Verständnis der Welt und darauf, wie Menschen andere Volksgruppen sehen. Viele würden jetzt sicher meinen, dass sie nicht manipuliert wurden, denn wer gibt sowas gerne zu? Andere würden die These vielleicht komplett verneinen, da sie zu unglaubhaft erscheint – die Menschheit ist heute zu aufgeklärt! Ist sie das denn wirklich? Und wird nicht genau diese These im Buch „Die Welle“ behandelt, das es auch schon als Film gibt? Betrachten wir einige Blockbuster der letzten Jahre. Der Film American Sniper dient als ein gutes Beispiel. American Sniper ist die Verfilmung eines im Irak stationierten US-Soldaten. Wie der Name des Films schon verrät, ist er ein Scharfschütze und kämpft im Krieg gegen Terroristen. Das beunruhigende am Film ist, dass jeder Muslim bzw. Iraker im Film irgendwie eine Verbindung zu Terroristen besitzt. Der Film transferiert dem Zuseher, dass es doch zivile und „normale“ Muslime bzw. Iraker gibt, aber irgendwie haben die trotzdem alle was mit Terrorismus zu tun. Sie können nichts dafür, es liegt ihnen einfach im Blut – das ist die Botschaft des Films.
Gemäß „The American-Arab Anti-Discrimination Committee“ (ADC) gab es während der Kinoausstrahlung in den USA einen Anstieg an Morddrohungen gegenüber muslimischen Mitbürgern. Auf Twitter fanden sich auch etliche Hasskommentare. Beeindruckend und beunruhigend was für einen starken Einfluss ein Film auf Emotionen und Taten eines Menschen hat!
Drehen wir den Spieß mal um
Wie wir wissen, beeinflusst die virtuelle Welt hinter der Linse unsere Realität bzw. reale Wahrnehmung. Was ist jedoch, wenn wir den Spieß umdrehen? Wenn wir versuchen, „Dehumanisierung“, wie sie in der Realität existiert, in der virtuellen Welt darzustellen? Existieren solche Versuche in der Film- bzw. Serienkunst? Die Antwort lautet: Ja! Die Serie „Black Mirror“ hat dies in einer Folge exzellent abgebildet. Ob dies die Intention der Produzenten und Regisseure war, sei hier außer Acht gelassen.
Staffel 3 Folge 5, „Männer aus Stahl“, behandelt das Leben eines Soldaten Namens „Stripe“ in einer fiktiven und futuristischen Welt. Eines Morgens erwacht er in der Kaserne und muss wegen eines Vorfalls mit seiner Truppe ausrücken – es ginge um einen „Kakerlakenvorfall“. Durch die Bezeichnung „Kakerlake“ soll dem Zuseher schon die erste Eigenschaft der Dehumanisierung suggeriert werden. Eine abwertende Bezeichnung einer Gruppe, die Entmenschlichung und Erniedrigung signalisieren soll. Der Begriff „Kakerlake“ wurde auch während des Ruanda Genozids für die Tutsis verwendet.
Im Dorf angekommen, erzählen arme Dorfeinwohner, dass sich jemand über ihren Essensvorrat gemacht hat. Der Verdacht fällt auf Kakerlaken, und der Soldatentrupp beginnt mit der Suche nach ihnen bei einem religiösen Prediger, der einige bei sich versteckt halten soll. Auch diese Szene erinnert stark an Geschichten aus dem nationalsozialistischen Deutschland, als Bürger ihre jüdischen Freunde und Nachbarn bei sich versteckt haben.
Nach sorgfältigen Durchstöbern des Hauses werden endlich die Kakerlaken gefunden und der Zuschauer bekommt sie zum ersten Mal zu sehen. Der erste Gedanke den Zuseher wahrscheinlich haben lautet: „Was ist denn das für ein Science-Fiction Blödsinn?“
Kakerlaken sehen wie eine Art Alienkreatur aus. Es ist eine Menschenform zu erkennen, jedoch sehen Kopf und Hände sehr missbildet aus und die Sprache besteht aus einem grässlichen Kreischen. Bevor die sogenannten Kakerlaken getötet werden, drückt einer von ihnen auf eine Art Störsender und sendet damit ein Störsignal aus.
Der nächste Einsatz des Soldatentrupps erfolgt etwas später in der Folge in einem Haus, das von Kakerlaken eingenommen wurde. Bis dahin litt Stripe, der Protagonist der Folge, unter plötzlich auftretenden Schwindelanfällen und Kopfschmerzen. Dem Zuseher wird damit eine Veränderung des Charakters suggeriert. Am Haus angekommen, kommt es zu einem Feuergefecht zwischen den drei Soldaten und den Hausbesetzern. Als eine Soldatin erschossen wird, stürmen die beiden anderen das Haus. Stripe entdeckt eine Frau in einem Zimmer, die sich versteckt hielt. Er erklärt ihr, dass er auf der Suche nach Kakerlaken ist und ihr nichts tun würde. Als die Frau beängstigt den Raum verlässt, wird sie erschossen. Geschockt versteht Stripe nicht, wieso die Soldatin eine Zivilistin erschoss. Und so geht es in der Szene weiter, eine Zivilistin nach der anderen wird erschossen, und Stripe realisiert nicht, was gerade geschieht. Am Ende findet er in einem weiteren Zimmer eine Frau mit einem kleinen Kind. Als die Soldatin herein kommt, um sie zu erschießen, überrumpelt er sie und flieht mit der Frau und dem Kind. Während der Flucht bekommt er wieder einen Schwindelanfall aufgrund einer Schusswunde und fällt in Ohnmacht.
In der nächsten Szene wacht er in einem Versteck unter der Erde auf und die Frau, mit der er geflohen ist, sagt zu ihm „Du siehst, wie ich wirklich bin!“. Sie erklärt ihm, dass der Chip (Das Implantat), der ihnen vom Militär eingesetzt wurde, ihr Aussehen und ihre Sprache verändert. So werden sie als „Kakerlaken“ wahrgenommen und nicht als Menschen. Der Störsender hat das Implantat nutzlos gemacht. Die Frau erzählt in einer sehr brüchigen Sprache:
„Alle hassen uns. Selbst die Dorfbewohner, weil sie es so gelernt haben. Vor 10 Jahren fing es nach dem Krieg an – das Screening-Programm, DNA-Checks und das Register. Und schon nannte uns jeder Viecher. Jede Stimme, egal ob Fernsehen oder Computer, sagte, wir würden eine Krankheit in uns tragen, wir wären schwach und es wäre in unserem Blut. Deswegen dürften unser Blut und wir nicht weiter bestehen. Mein Name war Katharina, jetzt nur Kakerlake.“
Die Szene erklärt etwas sehr wichtiges: Dehumanisierung ist etwas, das von einer Gruppe ausgeht. Menschen bzw. Gruppen dehumanisieren sich nicht von selbst, sie werden dehumanisiert. Der Dehumanisierungsprozess beginnt mit Kleinigkeiten wie „soziale bzw. kulturelle Unterschiede“, dann wird Angst gegenüber der Gruppe erzeugt und endet schlimmstenfalls in Massenmord und Genozid.
Kurz vor dem Ende der Folge wird Stripe in ein Gefängnis gesteckt. Dort erklärt ihm der Leiter, dass das Implantat als Hilfe für das Töten dient. Soldaten hätten mehr Probleme beim Abdrücken der Pistole, wenn sie richtige Menschen vor sich sehen würden. Als Strife meint, er würde das nicht mehr tun, zeigt ihm der Leiter ein Video, in dem er selbst dem zugestimmt hatte. Strife meint, er könne sich daran nicht erinnern, weil er hypnotisiert worden sei. Die Hypnose kann als Transfer zur Realität als Manipulation verstanden werden. Jeder Mensch stimmt dem selber zu, ob er in dem Sinne manipuliert wird und bestimmte Gruppen bzw. Menschen als minderwertig betrachtet. Jeder entscheidet selbst, ob er in den Strudel der Desinformation und Dehumanisierung springt oder nicht – und ist man erstmal drin, fällt es schwer, gegen den Strom zu schwimmen.
Futuristische Fiktion oder reale Welt?
Menschen neigen dazu, jede mögliche Art und Abbildung als harmlos darzustellen. „Das Implantat? Das gibt es ja nur in Serien und nicht in der realen Welt!“ Natürlich gibt es diesen Chip in der realen Welt nicht wirklich, wir können jedoch ein immaterielles Implantat besitzen, das wir uns selbst in den Kopf einsetzen. Wenn in der Zeit von Massenmedien Furcht, Gefahr, Krankheit und Chaos zu täglichen Schlagzeilen gehören, um so mehr Leser zu erhalten, dann setzen wir uns selbst ein solches Implantat in den Kopf. Der erste Zugang der Dehumanisierung ist dieser. Und wenn der erste Gedanke bei solchen Schlagzeilen nicht der Gleiche ist, wie zu Anfang der Folge „Was ist denn das für ein Sciene-Fiction Blödsinn?“, dann ist man vielleicht schon ein Teil der Dehumanisierung geworden.