Identität Individuum und Person

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Autor: Sinan Ertuğrul

Der Begriff Identität kommt vom lateinischen „idem“ und es bedeutet „dasselbe“. Aristoteles hat Identität mit der berühmten Gleichung A=A formuliert. Abgesehen von der Frage was A ist, stellt diese Gleichung eine Identität dar.[1] Also, A ist dasselbe wie A. Diese bloße Tautologie hat Aristoteles auch weiter erörtert und ist zum Schluss gekommen, wenn A denn gleich A gleich, dann müssen die beiden zeitlich und räumlich anderswo sein, damit sie sowohl gleich sein und doch auch unterschiedlich erscheinen können. Wenn wir also diesem bloßen A eine feste Deutung geben wollen und es z.B. als einen Tisch betrachten, dann müssen beide Tische sich gleichen, äußerlich wie innerlich, aber trotzdem getrennt sein, damit sie sich gleichen können bzw. Ähnlichkeiten repräsentieren können. Es können höchstens ähnliche Tische sein, aber niemals ein und derselbe Tisch.

Wenn wir von Tischen und ihren Identitäten sprechen, dann denken wir an Tische, die wir bis jetzt gesehen oder von denen wir gehört haben. Und von allen Gemeinsamkeiten der Tische, die wir kennen, kommen wir über eine deduktive Schlussfolgerung dazu zu sagen, dass ein Tisch aus unterschiedlichem Material zusammengesetzt wird, zum Stehen Füße braucht, seine Oberfläche soll gerade sein, weil ein Tisch für den menschlichen Bedarf gemacht ist und dementsprechend ausgestattet und auszusehen hat. Jeder Tisch ist einem anderen fast gleich oder ähnlich in seiner Erscheinung, in Zeit und Raum aber einzigartig. Wenn wir aber von den einzelnen gemeinsamen Nennern zu einem allgemeingültigen deduktiven Schluss kommen, dann reden wir nicht mehr von einem Tisch sondern von der Kategorie Tisch. Das wäre eine aristotelische Erklärung von Kategorien. Aber damit ist das Problem noch nicht geklärt, ob überhaupt die Vielheit von allen Tischen auf eine Einheit Tisch reduziert werden kann. Wenn eine Identität eine Einheit in sich ist, und auch eigenartig, wie können wir von vielen einzelnen Tischen, von denen jeder einzelne eigenartig ist, wenn auch ähnlich in manchen Punkten, eine einheitliche Tisch-Identität schlussfolgern. Im platonischen Dialog diskutiert Parmenides diese Frage mit Sokrates, sie kommen letzten Endes zum Schluss, dass es nicht möglich ist. Also, Vielheit ist nicht Einheit und umgekehrt ist Einheit nicht Vielheit.[1] Wie wir sehen können, ist es bereits sehr schwierig einen Tisch zu definieren, obwohl ein Tisch aus fester Materie besteht und keine eigene subjektive Wahrnehmung hat. Wenn wir die Menschen identifizieren wollen und unsere diesbezüglichen Versuche auf aristotelischen Kategorien basieren, werden wir nicht weit kommen. Denn auch wenn wir die Gemeinsamkeiten von allen Menschen in Betracht ziehen und am Ende zu einem allgemeingültigen deduktiven Schluss kommen, dann werden wir nur äußerlich definieren können, was ein Mensch ist. Anders als unbelebte Materie hat der Mensch auch eine eigene subjektive Wahrnehmung.

Nach der euklidischen Geometrie im zweidimensionalen Raum ist ein Punkt in einem Raum nur in seiner Position definierbar, wenn wir zumindest einen zweiten Punkt in Betracht ziehen. Wir können einen Punkt nicht nur durch seine eigene Erscheinung identifizieren. Einen Menschen kann man auch nicht für sich alleine erklären, weil ein Mensch nur in seinen Relationen zu anderen Menschen erfassbar ist.

Individuum
Ein wichtiger moderner Begriff ist das Individuum. Das Individuum ist der Teil der Gesellschaft, der nicht mehr dividiert werden kann. Das Modell vom Atom in den Naturwissenschaften wurde auf die menschliche Gesellschaft ausgedehnt. Atomos entstammte ursprünglich dem Denken Demokrits, wonach Substanz der Materie letzten Endes auf ein Unteilbares zurückgeführt werden kann. Nach Demokrit gilt dies auch für die Struktur des Geistes, der letztlich aus nicht mehr teilbaren Partikeln besteht, aus Atomen. Wenn der Mensch stirbt, dann zerfällt er in seine Atome, in seine kleinsten unteilbaren Einheiten. Die Atome sind laut Demokrit in allen Gegenständen gleich, nur ihre unterschiedlichen Aggregatzustände machen die Spezifika der Materien aus. Als Naturphilosoph gilt Demokrit als Vater der modernen Physik.[2] Sein Denken beeinflusst noch immer das Denken der Naturwissenschaften. Nur so ist es erklärbar, dass wir auch heute noch enorme Forschungsgelder ausgeben, um mit erheblichem technischem Aufwand diese kleinsten unteilbaren Stoffe zu finden. Heute wissen wir, dass Atome, Protonen, Neutronen, Elektronen, Quarks … nicht die kleinsten unteilbaren Teile sind, die nach Demokrit existieren müssten. Heute ist die Rede von Strings, die nicht sichtbar gemacht werden können, aber die mathematisch berechnet werden können, ergo existieren müssen. In diesem Bereich der Naturwissenschaft ist Empirie unmöglich, wir bewegen uns hier auf spekulativem Gebiet. Um in der Physik eine Materie zu definieren, bedarf es eines Ruhezustandes der Masse, weil Materie andere Eigenschaften besitzt, wenn sie in Bewegung ist. Eine Konstante können wir nur in der Ruhemasse festlegen. Bloß, Materie ruht nicht. Sie ist immer in Bewegung und der Ruhezustand ist nur eine Hypothese, um die Masse überhaupt definieren zu können.

Das Individuum ist auch etwas, das wir nicht mehr teilen können. Die Frage lautet, was ist das Ganze, von dem das Individuum, der einzelne Mensch, der kleinste unteilbare Teil ist? Der Mensch ist niemals alleine existent. Der Mensch ist stets ein Teil von etwas: Familie, Beruf, Ethnie, Nation, Religionsgemeinschaft, Fußballclub, Weltanschauung, politische Partei, Staat, Stadt, … – die sozialen Konstruktionen können beliebig erweitert werden. Der Mensch ist aber von diesem Ganzen abstrahiert worden. Wenn wir diesen Gedankengang akzeptieren, ergeben sich daraus einige Fragen: Ist der Mensch tatsächlich nicht mehr weiter teilbar? Ist der Mensch nicht ebenso dynamisch wie die Materie selbst, also immer anders? Ist nicht jedes Bild von einem Individuum nur eine Momentaufnahme, nicht dazu geeignet auch nur diesen einzelnen Menschen adäquat zu beschreiben? Diese Fragen und noch viele mehr sind berechtigt, wenn wir den Themenkomplex „Identität des Menschen“ behandeln wollen.

Der Mensch schreibt seine eigene Geschichte permanent neu. Täglich ändert sich seine Laune, seine psychische und/oder physische Verfassung. Wenn wir die Veränderlichkeit, die ständige Dynamik, des Menschen nicht in Betracht ziehen und von einem individuellen Kern ausgehen, dann laufen wir Gefahr den Menschen essentialistisch zu betrachten. Die Annahme wäre also, dass der Mensch substanziell einen Kern hat und dass dieser Kern unveränderbar und einzigartig ist.

Person
Person bedeutet auf Latein Maske. Dieser Begriff als Kategorie findet sich seit der Aufklärung in der deutschen Sprache. Person ist das, was eine Maske trägt.[3] Aber warum trägt der Mensch eine Maske? Ist der Mensch ohne Maske nicht erkennbar? Und ist diese Maske etwas Stabiles und Konstantes? Wenn wir Menschen als Person (als ein maskentragendes Wesen) erkennen, dann erkennt dieselbe Person sich selbst auch derart, deckt sich ihr Erkennen mit unserer Vorstellung? Jede Maske hat in der Dramaturgie eine eigene Rolle inne. Wie viel Maske trägt, oder besser gefragt, verträgt ein Mensch? Kann ich ohne sein Wissen und seine Zustimmung einem Menschen eine Maske aufsetzen? Ist dieser Mensch mit meiner aufgezwungenen Maske immer noch die Person, die ich sehen will?

In der darstellenden Kunst ist die Dramaturgie gespielt, jeder beteiligte Schauspieler ist sich dessen bewusst und in diesem Bewusstsein wird geprobt und aufgeführt. Auch die Zuschauer sind sich darüber im Klaren, dass es nur Masken sind, die die Schauspieler tragen und dass die Rollen, die gespielt werden, nur Ausdruck künstlerischer Konstruktionen sind. Ein Theaterstück ist eine Darstellung, die sowohl von Schauspielerseite als auch von Zuschauerseite bewusst als Spiel wahrgenommen wird. Die Masken sind zeitlich begrenzt und immer wieder veränderbar. Wenn wir Menschen mit Masken annehmen, dann sehen wir überall Menschen die je nach Zeit und Ort verschiedene Masken tragen; und diese Masken sind nicht eine sondern mannigfaltig.

Es gibt aber auch einen sozialen Rollencharakter und jeder Mensch erlernt die Rolleninformationen und spielt danach. Jemand besucht etwa eine juristische Fakultät und in dieser Fakultät lernt er, wie man mit eine Anwaltsmaske lebt und nach dem Studium trägt er seine Anwaltsmaske weiterhin und lebt danach. Seine Umgebung, seine Freunde, seine sozialen Handlungen werden von der Anwaltsmaske geprägt. Ein Anderer studiert Medizin und praktiziert danach als Arzt. Diese beruflichen Masken können nicht nach beliebiger Auffassung getragen werden. Niemand will mit einer Straßenbahn fahren, deren Fahrer ein selbsternannter Fahrer ist. Aber was ist mit den anderen Masken, die wir nicht nach beruflichen Kriterien erhalten, sondern die wir aufgrund unserer Überzeugungen tragen, so wie Frömmigkeit, Sportlichkeit, Liberalität, etc.? Diese Masken müssen wir nicht unbedingt irgendwo erworben haben, es sind oftmals Masken, die wir uns nach unseren eigenen Auffassungen auserkoren haben. Es gibt noch eine dritte Art Masken, nämlich die, die ohne unseren Willen und nicht ausgehend von unseren Vorstellung von uns selbst, von uns oftmals getragen werden müssen. Zu dieser dritten Kategorie Masken gehören Geschlechtszugehörigkeit, Pigmentierung der Haut, Abstammung, sexuelle Orientierung etc. Welche Masken setzen wir auf, wenn wir uns in welche Gesellschaft begeben? Tragen wir alle Masken mit uns? Noch interessanter ist die Frage, was machen wir mit unserer Maske, mit unseren Masken, wenn wir nach Hause kommen?

Jeder Bürger in Österreich hat einen Personalausweis. Dieser Personalausweis dokumentiert, wer wir sind. Jedes Kind bekommt nach seiner Geburt Identitätspapiere ausgestellt. Die Absicht, die hinter diesem Personalausweis steht, ist nicht eine Information für den Dokumentenbesitzer. Der Personalausweis ist eine Maske, die wir vom Staat aufgesetzt bekommen und dient nicht uns sondern dem Staat dazu, uns zu erkennen. Welche Informationen enthält ein solcher Personalausweis? Wer sind wir eigentlich nach diesem Dokument? Auf diesem Ausweis wird festgehalten, wie uns unsere Eltern genannt haben und wann und wo wir geboren sind. Des Weiteren wird festgestellt wann dies festgestellt wurde und von welchem Amt. Natürlich ist ein solcher Ausweis mit einem Foto von uns ausgestattet und möglichst fälschungssicher. Wenn ein Mensch gefragt wird, wer er sei, so wird niemand seinen Ausweis befragen, um darauf antworten zu können.

Wenn man diese Maskentheorie von der Perspektive der klinischen Psychologie aus analysiert, dann kommen wir in eine prekäre Situation. Gespaltene Persönlichkeiten sind gemäß den Erkenntnissen dieser Wissenschaft ein Krankheitsbild. Die Diagnose lautet Persönlichkeitsstörung, wenn jemand sich mit unterschiedlichen Persönlichkeiten identifiziert und danach lebt. Der feine Unterschied zwischen Schizophrenie und gewöhnlichen Maskenträgern ist der, dass der Schizophrene nicht bewusst weiß, dass er andere Masken trägt, der „gesunde“ Mensch jedoch schon. Ich möchte hier nicht die pathologischen Gründe für Schizophrenien erörtern, da das nicht das Thema dieser Arbeit ist. Es sei nur abschließend angemerkt, dass Psychosen per definitionem Erkrankungen sind, deren sich der Patient nicht bewusst ist. Demnach ist auch jeder „gesunde“ Mensch mit seinen vielen Masken, in dem Augenblick, in dem er vergisst, dass er eine Maske trägt, im Grunde einer Schizophrenie sehr nahe, nicht im pathologischen aber im psychotischen Sinne.


[1] Platon: Sämtliche Werke Band 3 Parmenides, rororo , Hamburg, 2004, S. 116
[2] Geyer Carl-Friedrich: Die Vorsokratiker, Panorama , Wiesbaden, S. 133
[3] Handbuch Pilosophiesche Grundbegriffe, Kösel Verlag, München, 1973, S. 1060

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Politikwissenschaftler, lebt und arbeitet in Wien

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