Autor: Oktay Taftalı
Unsere Vorstellungstätigkeit, die einen wichtigen Teil unseres geistigen Lebens ausmacht, wurde einmal vom französischen „Ideologen“ Destutt de Tracy als „Ideenwissenschaft“ aufgefasst. Und seitdem ist „das Denken“ im Alltag nicht mehr das Denken. Es ist zwar vom Menschen unabhängig, aber ihm entweder eine freundliche oder feindliche Tatsache geworden. Es gab zwar mit Platon und Aristoteles schon vor Tracy mögliche Vorläufer der „Ideenwissenschaft“, aber im Wissen um den Unterschied zwischen Vorstellung und Zweck hat man für das 18. und das 19. Jahrhundert die Vernunft der Aufklärung spezifisch zu betonen.
Eigentlich sollte das Denken jedoch ein selbstverständliches und immanentes Handeln des Menschen, wie Essen, Schlafen, Pfeifen oder das Pflücken eines Apfels von einem Baum, sein. Bei Tagesanbruch auftretender Wissenschaftsfetischismus, historische und inhaltliche Tendenzen, die eine besondere Form der Vernunft des Menschen anbeten und den Menschen ins Zentrum des Universums setzen, werden das Denken nicht in Ruhe lassen. Eine bessere Beschreibung dafür ist wie folgt:
Leichtgläubigkeit jedoch, Widerwille gegen den Zweifel, Unbesonnenheit im Antworten, Prahlerei mit Bildung, Scheu zu widersprechen, Interessiertheit, Lässigkeit in eigener Forschung, Wortfetischismus, Stehenbleiben bei bloßen Teilerkenntnissen: dies und Ähnliches hat die glückliche Ehe des menschlichen Verstandes mit der Natur der Dinge verhindert, und ihn statt dessen an eitle Begriffe und planlose Experimente verkuppelt: […]1
Die aufklärerische Vernunft nimmt das Universum so wahr, als ob es eine mathematische Konstruktion eines Architekten wäre, und versucht, seine Kategorien und Gesetze in solchem Sinne zu bestimmen und eine entsprechende Wissenschaft aufzubauen. An diesem Punkt verliert das Denken aber sein eigenständiges Sein und neigt dazu, eine subjektive Wissenschaft zu sein. In der kapitalistischen Zivilisation verwandelt sich jedes menschliche Handeln, das das Denken in sich schließt, unausweichlich und gleichzeitig in ein ideologisches Handeln: die Kunst, die Politik, die Wissenschaft, die Philosophie. Jedes derartige Handeln muss während der Epoche der Aufklärung im Horizont dieser Ideologie einen bestimmten Platz einnehmen, was mit der Philosophie der englischen Aufklärung und dann mit der Französischen Revolution begonnen und bis zum Untergang der Sowjetunion gedauert hat.
Der historische Ideolog [sic](historisch soll hier einfach zusammenfassend stehn [sic]für politisch, juristisch, philosophisch, theologisch, kurz für alle Gebiete, die der Gesellschaft angehören und nicht bloß der Natur) – der historische Ideolog hat also auf jedem wissenschaftlichen Gebiet einen Stoff, der sich selbständig aus dem Denken früherer Generationen gebildet und im Gehirn dieser einander folgenden Generationen eine selbständige, eigne Entwicklungsreihe durchgemacht hat.2
Obwohl die Ideologie am Anfang als einheitliche Ideenwissenschaft entworfen wurde, wurde sie mit der Zeit in Form von günstigen und ungünstigen, freundlichen und feindlichen, echten und gefälschten, wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Ideologien entwickelt und geordnet. „Die Ideologie ist ein Prozeß, der zwar mit Bewußtsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewußtsein. Die eigentlichen Treibkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; sonst wäre es eben kein ideologischer Prozeß. Er imaginiert sich also falsche resp. scheinbare Triebkräfte.“3 Deswegen ist es in der Praxis unmöglich, selbst in subjektiver Sicht von einer absoluten Wissenschaft, vor allem nicht von einer „Ideenwissenschaft“ zu sprechen. Auch an anderen Beispielen gerät die aufklärerische Vernunft in eine Sackgasse, welche die Ideologie erfunden und die Menschheit in diesem Sinne „fasziniert“ hat, und bemüht sich, dieses selbständig hergestellte „Produkt“ wieder selbst wertlos zu machen. Wir sehen dann, dass der Marxismus, der Gipfel der Aufklärung, nach den französischen Empiristen vehement Anspruch auf den Begriff Ideologie erhebt: „Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen.“4 Aus diesem Ausdruck von Engels kann man herauslesen, dass die Prozesse der Politik und des Rechtes gleichzeitig ideologische Prozesse sind. Der Unterschied zwischen einem echten und einem so genannten Denker kommt bei der Wertung der beiden Prozesse heraus. Ein echter Denker stellt fest, dass sich die ideologischen Prozesse auf ökonomischen Ursachen erheben und dass sie wieder von diesen Gründen bestimmt werden. Im Gegensatz dazu bemerkt der angebliche Denker diese Ursachen nicht und beschäftigt sich mit den scheinbaren, gefälschten Ursachen.
Die Konservativen, Liberalen und Neo-Liberalen bewerten den Marxismus als eine deologie, noch dazu als „eine totalitäre Ideologie“, deren „Sisyphusarbeits-Konflikt“ im Laufe der Jahrzehnte das Leben zahlreicher Menschen aus vielen Ländern unerträglich gemacht hat. Das besagt, dass die aufklärerische Vernunft, welche die Ideologie entdeckt hat, dank ihrer Entdeckung in sich selbst eine Art Konfliktdynamik entwickelt und auf diese Weise ihrer eigenen gesellschaftlichen Konstitution die Form gegeben hat, die sie dafür vorgesehen hat. Auch jene Gesellschaften, die in der ‚Aufklärungsumlaufbahn‘ kreisen, haben dieses Verhältnis der geistigen Entfernung und Nähe geteilt und teilen es immer noch. Mehr als die Ergebnisse dieses Prozesses zählt, was die anderen Gesellschaften, die außerhalb der kapitalistischen Zivilisation geblieben sind, für diesen Konflikt, der nicht einmal zu ihnen gehört, bezahlt haben. Die Ideologie, die für bereits aufgeklärte Gesellschaften und für die Entwicklung der aufgeklärten Vernunft ein Offenbarwerden der geistigen Dynamik darstellt, hat viel Unglück und Zerstörung in den Gesellschaften verursacht, die von dieser Entwicklung eigentlich weit entfernt waren und denen diese Gestalt der Vernunft fremd war. Als konkretes aktuelles (2001-2009) Beispiel lässt sich anführen, dass die evangelisch-methodistische Religion durch die US-amerikanische Neocon-Clique schon vor jeder unvoreingenommenen Betrachtung ideologisiert ist.
Das Denken an sich existierte in Mesopotamien, Indien, Nordafrika, ja es ist sogar schon so alt wie die Geschichte der Menschheit. Aber eine bewusste Ideologie war es noch nicht. So wird in Mesopotamien nicht von einer „Ideenwissenschaft“ gesprochen. Man hätte das auch nicht gebraucht. Auf diesen erwähnten Gebieten der Zivilisation gab es im Laufe der Geschichte natürlich verschiedene Gedanken über Ideen. Man kann auch behaupten, dass dieses Denken einen Sicherheitsmechanismus hatte, der die Intuition und die Emotion nicht ausschloss. Es ist eine Erfindung des kapitalistischen Teils der Zivilisation und seiner konfliktreichen aufklärerischen Vernunft zu sagen, dass die Ideen in systematisierter Weise in einem disjunktiven Sortieren als subjektive Werte entworfen werden und dass diese subjektiven Werte im Namen der Wissenschaft miteinander in Konflikt geraten. Deswegen muss man beim Diskutieren der Ideologie bedenken, dass sie eine zum kapitalistischen „Teil“ der Zivilisation gehörende Angelegenheit ist, wenn davon ausgegangen werden kann, dass die Theorie eine materielle Macht wird, sobald sie die Massen ergriffen hat.
Die hier in Rede stehende Theorie ist eine die Politik oder das Recht einschließende Ideologie. Diese These wird von der Lebenspraxis bestätigt. Vor den von Ideologie erfassten Massen kann letztlich keine Macht bestehen. Es ist hier nicht wichtig, um welche Ideologie es sich handelt. Das Wichtigste ist, dass zusätzlich zur Annahme, dass die Gesellschaft ein sich entwickelnder Organismus ist, sie auch Leidenschaft und Bedürfnis zur Ideologie hat und solch eine mentale Verfassung aufweist, welche die Dynamik der Entwicklung im Konflikt sucht. Der Marxismus bringt diese Leidenschaft mutig und deutlich zur Sprache und deshalb ist er in moralischer Hinsicht in sich selbst sehr ausgeglichen. Aber dieselbe moralische Ausgeglichenheit können wir in der Politik in den Kreisen, die sich als liberal oder sozialdemokratisch beschreiben, nicht sehen. Man hat fast übersehen, dass auch Demokratisierung im Geist des Christentums oder des Liberalismus eine Art Ideologie sind. Es genügt, dass sie sich an die Objektinterpretation des Zeitabschnitts und an den sich auf diese Interpretation aufbauenden Geist anpasst, anschmiegt. Diese Situation ist nicht nur aus der Politik, sondern auch aus der Kunst zu illustrieren. Steht es denn nicht als ganz klare empirische Wahrheit vor uns, wie stark das gesamte Menschen- und Gesellschaftsleben von bekannten Ideologien in verschiedenen Epochen, Ländern und Geographien bestimmt werden?
Seit der Aufklärung spricht diese Vernunft, die von sich selbst geglaubt hat, dass ihre Produkte die universellen Werte der ganzen Menschheit sind, vom Ende der Ideologien. Um die Legitimationsbasis der Globalisierungspropaganda zu verstärken und um die Gründung der von Ideologien „unabhängigen“ neuen Regional-Staaten zu erleichtern, könnte ein solches Bedürfnis entstanden sein. Aber diese Vorstellung selbst ist eine Ideologie in Hinsicht auf das Bedürfnis der Vernunft des kapitalistischen Teils der Zivilisation. Es wäre vorstellbar, dass die Ideologien mit einer radikalen Veränderung dieser Vernunft zu Ende gehen. Doch scheint es genauer gesehen nicht möglich zu sein, dass die Ideologien beendet werden, bevor die systematische Vernunft des kapitalistischen Teils der Zivilisation nicht auf ihre herkömmliche begriffliche Fassung und auf die sich von Emotion und Intuition absetzende Haltung verzichtet und zur menschlich natürlichen und sachlich adäquaten Denkeinstellung zurückkehrt.
Es wird der gesunden Intuition des Menschen entsprechen, eine außerideologische Vernunft außerhalb des Umfelds zu suchen, in dem Ideologie entsteht. Es ist wichtig, dass man seine lebensnotwendigen Bedürfnisse sichert, damit man ein glückliches Leben führen kann. Die wichtigsten Voraussetzungen für ein glückliches Leben – inspiriert von Sokratischen Schulen – sind ein Obdach, ein gesunder Körper, Möglichkeiten zur gesunden Ernährung: Auf diesen Bedürfnissen aufbauend, kann man dann Gerechtigkeits-, Freiheits- und Glaubensideen suchen und erreichen. Wenn das Denken, das dieses Handeln der Grundbedürfnisse möglich macht und das das geistige Element solchen Handelns ist, auf schlüssig funktionierende Weise gelingt, könnte das Glück gefunden werden bzw. kann es erreichbar sein. Dagegen ist es eine zufällige und unverlässliche Unternehmung, dass die Form menschlicher Vernunft glücklich sein soll, die in Ideologie abgeglitten ist, indem sie von ihren Grundabsichten, ihrer natürlichen Kontextierung abweicht und nach der hier erwähnten und kritisierten „Ideenwissenschaft“ strebt. Warum gilt es als Notwendigkeit, Wissenschaft von allen organischen und anorganischen Elementen des Seins, von den materiellen und geistigen Lebensräumen zu schaffen? Ist der Grund dieser Notwendigkeit der, dass das Leben als eine dauernde Fortschritts-, Entwicklungs- und Wachstumsdynamik verstanden wird? Hat diese Wahrnehmung nichts mit dem ideologischen Druck des Kapitalismus zu tun, der dauernd wachsen und auch technologisch dem Markt unendlich viele neue Waren anbieten muss? Denn „Aufklärung besteht dabei vor allem im Kalkül der Wirkung und der Technik von Herstellung und Verbreitung; ihrem eigentlichen Gehalt nach erschöpft sich die Ideologie in der Vergötzung des Daseienden und der Macht, von der die Technik kontrolliert wird.“5 Das Denken, bei dem Praktisches und Lebenswichtiges überströmen und das in diesem Sinne forschend und schöpferisch ist, wird bei jenen Lebensformen vor der Zeit des Kapitalismus in der Geschichte nur mit der Lust der Neugier und des Vertreibens dieser Neugier identifiziert. Bei so einer Mentalität werden Denken und Wissen abhängig von der Einwilligungsintention entworfen und werden von ideologischen Angriffen des modernen Zeitalters schutzlos gemacht. Oder könnte dies Denken von etwas Anderem verursacht werden? Kann man den Unterschied zwischen der Ideologie und dem „natürlichen Denken“ grob gesagt als Unterschied zwischen „vormoderner“ und „moderner“ Wissenschaft und als eine Verfälschung der erstgenannten verstehen? Was für einen Platz, was für eine Bedeutung hätte die Ideologie in einer mentalen Verfasstheit, in der Wissen und Moral als identisch wahrgenommen werden? Es ist Zeit, diese Fragen wieder in dieser anscheinend „altmodischen“ Fassung zu stellen.
1 Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung.
Frankfurt am Main: Fischer 1998. S. 9.
2 Friedrich Engels: Brief an Franz Mehring. Ausgewählte Werke. Moskau:
Progress 1987, S. 665.
3 Engels, a.a.O., S. 664.
4 Engels, a.a.O., S. 664.
5 Horkheimer/Adorno, a.a.O, S. 6.