Im Geist universeller anthropologischer Werte

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Autor: Espérance-François Bulayumi

Was sind Werte überhaupt? Kann man Werte von Ethik und Moral abkoppeln? Ehrlichkeit, Treue, Zuverlässigkeit, Höflichkeit, Aufrichtigkeit, Tradition, Solidarität, Respekt, Hilfsbereitschaft, Toleranz, Familie, Ordnung, Vertrauen, Fleiß, Bescheidenheit, etc. sind Begriffe, die unsere Wertvorstellungen prägen. Wie versteht der Einzelne diese Begriffe? Jeder weiß, was all diese Begriffe sind. Aber die Schwierigkeit allgemeingültige Interpretationen für diese Begriffe zu finden, taucht auf, sobald man beginnt, sich mit ihnen philosophisch zu beschäftigen. Der Beginn der systematischen Beschäftigung mit dem Begriff ‚Wert‘ führt unweigerlich zu den Überlegungen, die Augustinus zum Begriff der Zeit anstellte: Wenn man nicht darüber nachdenkt, weiß man, was damit gemeint ist; je länger man aber versucht, sich darüber Klarheit zu verschaffen, desto fremder erscheint einem der Begriff „Zeit“.

Seit ich den Auftrag erhalten habe, einen Artikel für die soeben erschienene Ausgabe von „Der.Wisch“ mit dem Schwerpunkt Werte und Identitäten zu verfassen, habe ich darüber sehr viel nachgedacht und bin zu der Erkenntnis gekommen, dass ich versuchte, ein Werte-Sammler zu werden. Nun, da ich begann den Artikel niederzuschreiben, habe ich den Werte-Sammler-Weg verlassen.

Werte sind zweifelsohne Leuchttürme für soziales Handeln. Sie führen aber allzu oft zu divergierenden Sichtweisen innerhalb einer Gesellschaft. Ich bejahe zum Beispiel die Allgemeingültigkeit des Wertekatalogs von Frank Stronach[1]: Wahrheit, Transparenz und Fairness; wohl aber bin ich mir dessen bewusst, dass angesichts pluralistischer Ausrichtung der globalen Welt seine Hermeneutik von Wahrheit, Transparenz und Fairness nicht als allgemeingültige Werte-Interpretation für offene moralische Fragen in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft betrachtet werden kann. Das heißt, einerseits gibt es allgemein anerkannte globale Werte, anderseits gibt es keine allgemeingültige Werte-Interpretationen. So kann man sowohl von Werte-Hierarchien innerhalb eines sozialen Gefüges als auch bei einzelnen Individuen innerhalb ein und desselben sozialen Gefüges sprechen. Deshalb erscheint es an dieser Stelle angebracht, meine Wertvorstellungen in Verbindung mit meinem Tun bzw. meiner Tätigkeit zu thematisieren.

Meine Wertvorstellungen sind von meinem Werdegang geprägt: Mein Geburtsort, meine Bildung und Ausbildung, meine Tätigkeiten und die Menschen um mich sind die Essenz [die Basis, das Fundament ???]meiner Wertvorstellungen. Woher ich komme, was ich derzeit tue und wohin ich blicke. Ich präge meine Welt und Umwelt. Meine Welt und Umwelt prägen auch mich. Zu meiner Welt gehört auch mein Arbeitsplatz am Afro-Asiatischen Institut in Wien, eine Institution, die während der sensibelsten Zeit des Kalten Krieges gegründet wurde. In dieser Zeit wurden viele Länder Afrikas unabhängig. Einerseits versuchte die Sowjetunion ihre Vorherrschaft in der „Dritten Welt“ aufzubauen; andererseits versuchten ebenso die westlichen Mächte in diesen Ländern ihre Vormachtstellung durch die Einsetzung bzw. Unterstützung rechtsgerichteter Politiker zu festigen. Es standen ungleiche politische und wirtschaftliche „Koalitionen“ zwischen den linksgerichteten „Dritte Welt-Führern“ mit den Ländern des Warschauer Paktes einerseits und zwischen den rechtsgerichteten „Dritte Welt-Führern“ und den westlichen Mächten andererseits. Diese ungleichen Koalitionen haben Spuren hinterlassen, die teilweise bis heute eine konstruktive politische und wirtschaftliche Entwicklung in vielen Ländern Afrikas verhindern.

Genau zu dieser sensibelsten Zeit der globalen Geschichte erkannte die Römisch-Katholische Kirche, wie wichtig Bildung für die gesamte Menschheit ist. Denn Bildung ist Aufklärung und eine gute humanistische Aufklärung ist nichts anderes als ein Wegweiser für ein friedliches und gerechtes zwischenmenschliches Zusammenleben. In diesem Sinne sagte Papst Johannes XXIII in „Pacem in terris“ folgendes:

„Kraft des Naturrechtes steht es dem Menschen zu, an der geistigen Bildung teilzuhaben, d.h. also auch das Recht, sowohl eine Allgemeinbildung als auch eine Fach- und Berufsausbildung zu empfangen, wie es der Entwicklungsstufe des betreffenden Staatswesens entspricht. Man muss darauf hinarbeiten, dass Menschen mit entsprechenden geistigen Fähigkeiten zu höheren Studien aufsteigen können, und zwar so, dass sie, wenn möglich, in der menschlichen Gesellschaft zu Aufgaben und Ämtern gelangen, die sowohl ihrer Begabung als auch der Kenntnis entsprechen, die sie sich erworben haben“.

Diese Aussage wurde für zahlreiche kirchliche Institutionen, die sich mit Entwicklungszusammenarbeit beschäftigten, in den folgenden Jahren richtungsweisend und hat auch heute ihre Aktualität nicht eingebüßt. Das gilt auch für das Afro-Asiatische Institut in Wien, dessen Gründungsauftrag die Bildung und das Voneinanderlernen als wertvolle Instrumente friedlicher Koexistenz unter den Menschen hervorhebt. So nehme ich stets als Mitarbeiter dieser Institution dessen Gründungsauftrag als einen Orientierungspfad für meine Tätigkeiten wahr. Das hindert mich nicht daran, die Veränderlichkeit, der meine Wertvorstellungen unterliegen, in meine Arbeit einfließen zu lassen. Denn ich sehe sowohl aufgrund meiner Erfahrung als auch meines Werdegangs, dass Werte sich nicht von Ethik bzw. Moral abkoppeln können (vgl. Nikomachische Ethik bei Aristoteles: die Frage nach dem höchsten Gut). Indes würde ich sogar behaupten, dass Frank Stronach – für ihn – die „unethische“ Arbeitsart seiner politischen Mitbewerber/innen anprangert, indem er Werte als die Bezeichnung seines Parteiprogramms hervorhebt. Trotzdem weiß ich nicht, was er unter Wahrheit, Transparenz und Fairness versteht. Ich muss das auch nicht verstehen. Ich könnte ihm sogar trotz unterschiedlicher Interpretation der gleichen Werte meine Stimme geben, solange diese Divergenz im Rahmen einer demokratischen Rechtsstaatlichkeit geschieht und respektiert wird.

Meine Wertevorstellungen sind untrennbar mit meinen ethischen Vorstellungen verbunden: Das Wohlergehen des Menschen in Einklang mit der Natur als höchstes Gut. Dergestalt unterstrich der im Dezember 2001 verstorbene Dichter, Philosoph und langjährige Präsident von Senegal Léopold Sédar Senghor in seinen diversen Aufsätzen die Untrennbarkeit von Werten und Ethik in den schwarzafrikanischen Traditionen, wie folgt: „Es ist jetzt nicht mehr allzu schwer zu erraten, worin die schwarzafrikanische Ethik besteht. Sie beruht auf der Ontologie des Schwarzafrikaners und verwirklicht sich im Leben der Gemeinschaft. Im Mittelpunkt des gesamten Universums steht für den Schwarzafrikaner der lebendige Mensch, das existierende Dasein. Das Geschehen der gesamten Schöpfung und aller Lebenskräfte hat kein anderes Ziel als eben die persönliche Verwirklichung des menschlichen Daseins, die Stärkung und Entfaltung seiner Lebenskraft. Da diese jedoch nur eine augenblickliche und kontingente Form des Gemeinschaftsdaseins ist, das selbst wiederum seinen Ursprung in Gott hat, kann die persönliche Lebenskraft nicht als Selbstzweck betrachtet werden. Die Existenz des einzelnen Menschen ist lediglich ein solidarischer Teil des Gemeinschaftsdaseins, das sich selbst wiederum mit der Gesamtheit aller Lebenskräfte des Universums in Einklang bringen muss. Die Ethik bedeutet für den Schwarzafrikaner aktive Weisheit. Sie besteht für den lebendigen Menschen darin, die Einheit der Welt zu erkennen und an der Weltordnung mitzuwirken“1. Diese Untrennbarkeit von Werten und Ethik in Afrika manifestiert sich im Leben von Diambours. Denn „Diambour“ bezeichnet bei den Wolof im Senegal einen ehrenhaften, würdigen Menschen. Er übt Gerechtigkeit und handelt in Güte. Er kennt das Böse und handelt im Guten. Er liebt friedfertige Tage. Sein Leben ist von innerer und äußerer Schönheit geprägt. Vornehmheit und Weltkenntnis gehören zu den Eigenschaften eines Diambours, der stets durch seine Vorstellungen, Einstellungen und Handlungen Frieden zwischen einzelnen Menschen und eine friedliche Koexistenz der Völker.


1 Léopold Sédar Senghor in: Afrika antwortet Europa – Vorträge und Aufsätze führender Afrikaner. Hrsg. von Ruprecht Paqué, Frankfurt am Main 1967.

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Schriftstelller, Bildungsbeauftragter im Afro-Asiatischen Institut (AAI) Wien

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