Interview von Tarkan Tek
Souad Abderrahim (54) ist bei der letzten Kommunalwahl zur Bürgermeisterin der tunesischen Hauptstadt Tunis gewählt worden. Ihr Wahlerfolg war sicherlich ein historisches Ereignis, denn zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt Tunis wird die Funktion des Bürgermeisters von einer Frau und damit einer Bürgermeisterin bekleidet. Das ist auch deshalb von Bedeutung, weil nach der Revolution das erste Mal freie Kommunalwahlen stattgefunden haben. Andererseits ist ihr Wahlsieg ein großer Erfolg für die tunesischen Frauen und die islamische Partei Ennahda. Souad Abderrahim bezeichnet sich selbst als Muslimin, Demokratin und Feministin. Ihre Partei unterstützte die Gesetze für mehr Frauenrechte nicht, sie aber schon. Sie will für die Stadt Tunis vieles ändern und verbessern. Zu ihren wichtigsten Zielen gehört die Lösung des Müll-, Verkehrs- und Umweltproblems der Stadt.
Die Zeitung „Washington Post“ hat einen Artikel über Sie geschrieben, indem ihr Sieg gelobt wurde! Ja, einige Kongressmitglieder haben sogar gemeint, dass was die „Washington Post“ über Souad Abderrahim geschrieben hat, mehr sei, als was sie über die amerikanischen Kongressabgeordneten schreibt. Wurde dieser Erfolg so hoch bewertet, weil zum ersten Mal nach 160 Jahren in der Geschichte der Hauptstadt eine Frau als Bürgermeisterin regiert oder eher, weil sie von einer islamischen Partei nominiert wurden? Hat die Tatsache, dass Sie eine Führungsrolle in der Ennahda Partei spielen und von ihr nominiert wurden, keine große Begeisterung ausgelöst?
Mein Sieg wurde auch gefeiert, weil ich eine Frau bin. Für mich sah die Sache aber so aus: Ich bin eine tunesische Bürgerin, die gewählt wurde. Es wird für die islamische Partei Ennahda hervorgehoben, dass sie eine Frau für diese Funktion in die Wahl geschickt hat, anders als die anderen Parteien, die theoretisch die Rechte der Frauen immer wieder propagieren, aber keine Frauen für die Wahl haben kandidieren lassen. Einige Führer dieser säkularen Parteien kritisierten meinen Erfolg sogar und meinten, dass es unmöglich wäre, eine Frau in dieser Funktion zu akzeptieren. Sie wollten ausdrücken, dass die Funktion ausschließlich den Männern vorbehalten wäre! Dieses kulturelle Erbe ist bei vielen Männern noch sehr präsent.

In der Geschichte Tunesiens wie in der Geschichte der Arabischen und Islamischen Welt insgesamt ist das erste Mal eine weibliche Bürgermeisterin für eine Hauptstadt gewählt worden. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Ich habe schon gesagt, dass das tunesische Volk uns durch die Wahlergebnisse neue Botschaften gesendet hat. Die wichtigste Message war, dass es ihr Vertrauen in eine Frau gesetzt hat. Die Mehrheit der Bevölkerung hat die Wahl einer Frau als Bürgermeisterin der Stadt Tunis befürwortet und der Vorstellung der Unterlegenheit von Frauen eine Absage erteilt. Das kann als Ausdruck einer Mentalitätsänderung oder zumindest als Beginn eines Mentalitätswechsels gesehen werden. Es ist aber leider auch zu bemerken, dass viele junge Leute der Wahl ferngeblieben sind. Ich gehöre zu einer Partei mit theologischen und religiösen Hintergründen, die glaubt, dass Frauen wie Männer hervorragende Arbeit im Dienste der Bevölkerung leisten können. Das ist auch eine wichtige Botschaft der letzten Kommunalwahl. Die Analytiker sollten dieses politische Phänomen wahrnehmen und versuchen, sie wirklich zu verstehen – vor allem, dass wir in Tunesien seit der Revolution eine sehr bewegende Politik erleben. Die Wahlergebnisse müssen von Grund auf analysiert werden, damit wir die Fehler ausbessern und die Errungenschaften ausbauen können.
Sie sind Mitglied einer islamischen Partei. Sie haben Ihre Partei und Parteiführer Ghannouchi als Vorbild für demokratische Muslime bezeichnet. Wie denken Sie darüber, könnte die Ennahda-Partei als Vorbild dienen und der Welt eine neue Hoffnung geben?
Tunesien präsentiert eine große Hoffnung für viele Menschen unserer Welt. Tunesien ist ein hervorragendes Experiment für andere. Die Ennahda-Partei repräsentiert durch ihre Offenheit und ihre Politik der Kompatibilität auch ein hervorragendes Experiment. Dass wir friedlich durch Dialog und Gespräche unsere Probleme lösen, dass wir im Interesse des Landes auf das Regieren verzichten, dass wir eine intensive Kommunikation mit allen politischen Gegnern pflegen und dass dem Interesse des Landes die höchste Priorität eingeräumt wird, auch wenn es Nachteile für die Partei bringt. Das sind einige Beispiele, die zeigen, wie unsere Partei gezielt den Demokratisierungsprozess unterstützt, sich selbst zurücknimmt, sich nötigenfalls zurückzieht. Eitelkeit und Inkompatibilität mit dem Staatsapparat sind grobe Fehler, denen viele islamische Parteien zum Opfer gefallen sind. Solche Haltungen führen sicherlich zum Misserfolg beim Regieren. Wir sind heute in einem Versöhnungsprozess mit dem Staatsapparat. Die Mitglieder der Ennahda-Partei haben kein Training im Staatsapparat absolviert. Sie müssen das erst absolvieren, um zu verstehen, wie ein Staat funktioniert.
Würden Sie sich selbst als feministische Muslimin bezeichnen? Und was bedeutet Feminismus für Sie?
In meinem politischen Engagement habe ich mich seit meiner Studentenzeit für die Bürger eingesetzt, egal ob Frau oder Mann. Ich gehöre zu einer Partei, die religiöse und theologische Hintergründe hat. Sie wird beschuldigt, sich nicht um die Rechte der Frauen zu kümmern. In unserer Partei wurden aber die Rechte der Frauen hervorgehoben. Wir haben auch mitbewirkt, dass die Gleichheit in der neuen Verfassung verankert wird. Im Wahlrecht wurde explizit betont, dass der Frauenanteil in den Wahllisten sowohl horizontal als auch vertikal die Hälfte betragen muss. Wir haben uns für die Rechte der marginalisierten Frauen und für viele entrechtete Frauen eingesetzt. Wir haben einen Verein gegründet, um die Rechte der PolitikerInnen, die stärker als Männer und unpolitische Frauen Angriffen ausgesetzt sind, zu verteidigen. Wir müssen die Tendenzen bekämpfen, die versuchen, Frauen zu vertrösten und welche Frauenrechte ignorieren oder zumindest verzögern möchten, damit die Frauen nicht zu ihren Rechten kommen.
In Ihrem Wahlkampf haben Sie besonders die Transparenz betont. Sehen Sie diesen Punkt deshalb als wichtig an, weil sich die Menschen eine Veränderung gegenüber der früheren intransparenten Politik wünschen? Und wie wollen Sie diese Transparenz während Ihrer Amtszeit gewährleisten?
Durch die Öffnung unserer Türen. Alle Kommissionen öffnen ihre Türen für die Zivilgesellschaft. Alle unsere Aktivitäten, Besuche, die Finanzen, die Entscheidungen und Berichte werden auf unserer Homepage veröffentlicht. Die Projekte und die dafür vorgesehenen Finanzen werden auch veröffentlicht. Unsere Arbeit und unsere Türe sind offen für die Bürger. Es wird auch nach der Meinung der Bürger über die Prioritätensetzung der Projekte gefragt. Wir wollen erreichen, dass der Bürger das Gefühl gewinnt, dass er in einer ununterbrochenen Kommunikation mit der Stadtregierung steht. Wir wollen vor den Bürgern nichts verstecken. Wenn wir Fehler oder illegale Tätigkeiten eines Mitarbeiters bemerken, melden wir das an die Kontrollorgane. Das haben wir auch in den Medien versprochen. Wir haben auch gegen die Vernachlässigung der Arbeit Maßnahmen ergriffen. Wir haben einige „kranke Mitarbeiter“ zur Visite geschickt. Wir merkten, dass viele ihre Arbeit schnell wiederaufgenommen haben. Wir haben auch Untersuchungen über Krankmeldungen eingeleitet. Auch für Parkplätze, die nicht ausreichend ausgenutzt wurden, haben wir eine Überprüfung angeordnet. Wir haben auch Untersuchungen wegen Korruption im Bereich von Beerdigungen eingeleitet. Einige Bürger mussten 200 Dinar für ein Grab bezahlen, obwohl es in Wirklichkeit nur 50 Dinar kostet. Einige Angestellte versuchen, die Bürger auszunutzen. Das können wir nicht tolerieren. Diesen Missbrauch haben wir offen angesprochen.
In der letzten Zeit gab es viele Debatten über neue Gesetzesentwürfe, u.a. zur Gleichstellung von Frauen. Diese Gesetze wurden von den säkularen Parteien getragen, die Ennahda-Partei unterstützte diese Gesetze nicht, sie war dagegen. Glauben Sie, dass diese Art von Gesetzgebung zu einer revolutionären Veränderung führen wird?
Schauen Sie, der Präsident hat gemeint, dass unsere Gesetze mit der Verfassung konform sein sollen. Wir als Partei haben bei der Erstellung der Verfassung mitgewirkt. Die Verfassung unterstreicht die Gewissensfreiheit, die Freiheit des Glaubens und die Gleichheit. Die Gesetze müssen konform mit der Verfassung sein, gleichzeitig aber – wie der Präsident der Republik sagte – mit der Berücksichtigung der Religion der Mehrheit der Tunesier. Wie beispielsweise bei der Heiratsurkunde zwei Möglichkeiten bei der Vermögensaufteilung geboten werden (entweder ein gemeinsames Vermögen nach der Eheschließung oder die Unabhängigkeit des Vermögens jedes Ehepartners), sollten wir – wie der Präsident (Beji Caid Essebsi) betonte – die freie Entscheidung den Bürgern überlassen. Das heißt, entweder die Erbschaftsgesetze nach der Religion oder die Gleichheit nach westlichem Modell zu wählen. Ich unterstütze diese Ansicht.
Der Aufstand in Tunesien war eine relativ friedlich verlaufende Revolution. Einige Experten sagen, dass diese Situation der gemäßigten Natur der Islamischen Bewegung (der Ennahda- Partei) in Tunesien zu verdanken ist. Denken Sie, dass diese Annahme richtig ist?
Sie wissen sicherlich, dass die Ennahda-Partei eine friedliche Partei ist. Die Tunesier haben ein fortgeschrittenes Bewusstsein, auch über die Rolle der Frauen und ihren Kampf für mehr Rechte, sodass sie in den letzten Jahren vieles erreichen konnten. Wir sind mediterran geprägt und folgen immer dem Weg der Mitte. Es gibt heute eine sehr starke politische Auseinandersetzung, aber die Tunesier zeigen in schweren Zeiten ihre Einheit und lassen ihre ideologischen Haltungen beiseite. Das haben wir nach der Revolution erlebt. Es ist nie passiert in einem anderen Land, dass eine Partei das Regieren freiwillig aufgibt. Wenn wir Politik betreiben und über Politik reden, müssen wir die Religion beiseitelassen. Für ihre Recherchen hat die Religion möglicherweise ein großes Gewicht, aber für uns Politiker ist die Religion nicht sehr relevant. Jede Partei, die sich als zivil betrachtet, muss die anderen akzeptieren, auch wenn sie religiöse Hintergründe hat. Die Minderheiten sollten geschützt werden und der Umfang an Freiheiten soll für die Minderheiten erhöht werden. Die Freiheiten sind die Garantie für eine echte Demokratie. Alle diese Faktoren und Gedanken zeigen, das Tunesien ein besonderes Beispiel ist.
In der tunesischen Geschichte bedeutete die Revolution sicher die größte Veränderung nach der Unabhängigkeit, die noch dazu ohne eine äußere Intervention über die Bühne ging. Können wir sagen, dass die Menschen in Tunesien diese Veränderungen bereits realisiert haben?
Bis jetzt nicht. Die Revolution kann erfolgreich sein, wenn wir die Zahl der Arbeitslosen reduzieren können, wenn die Infrastruktur verbessert wird, wenn der tunesische Dinar seinen Wert wieder zurückbekommt, wenn die Lebensqualität steigt und die Bürger in Würde leben können. Nach der Revolution ist die wirtschaftliche Krise gestiegen. Wir leiden an einer Explosion von Beamtenlöhnen. Das hat zu einer finanziellen Inflation geführt. Die Kredite, die wir uns ausgeborgt haben, waren nicht für Investitionen für ökonomische Projekte, sondern dienten ausschließlich dazu, die Löhne ohne Verzögerung zu bezahlen. Der tunesische Bürger fühlt nicht, dass seine Ziele nach der Revolution verwirklicht wurden.

Glauben Sie, dass die tunesische Revolution das alltägliche Leben verändert hat? Wenn ja, worin bestehen Ihrer Meinung nach die wichtigsten konkreten Änderungen? Was sind die positiven und die negativen Änderungen?
Ja, die tunesische Revolution hat das alltägliche Leben positiv aber auch negativ verändert. Die positive Änderung ist die Freiheit und die negative Entwicklung ist die schwere wirtschaftliche Lage.
Ich habe gesehen, dass in der Hauptstadt Tunis viel Arbeit auf Sie wartet, z.B. Infrastruktur, der öffentliche Verkehr, Umweltprobleme oder Müllabfuhr. Wie werden Sie diesen Herausforderungen begegnen und planen Sie neue Projekte für die Stadt?
Ich werde diese Herausforderungen durch eine gute Regierungsführung, eine offene Politik, und eine intensive Kommunikation mit den Bürgern bewältigen, wobei auch direkte Treffen mit den Einwohnern durch bereits begonnene Dialogsitzungen stattfinden werden, um gemeinsame Lösungen der Probleme zu erarbeiten. Das stärkt bei den Bürgern das Selbstbewusstsein und fördert den Einsatz, ihren Bezirk sauber zu halten. Die Stadt Tunis leidet an einer sehr schwachen Infrastruktur und einem Mangel an Gemeindemitarbeitern. Wir versuchen mit den vorhandenen Materialien und den wenigen Mitarbeitern eine gute Arbeit zu leisten. Es ist sicherlich schwierig, aber machbar. Wir brauchen jetzt eine klare Strategie und die Offenheit von allen Mitgliedern des Stadtrates mit ihren verschiedenen politischen Positionen, um das Beste für die Stadt zu erreichen. Wir sind gerade bei der Planung eines mittelfristigen und eines langfristigen Programms. Wir haben auch das Problem alter Häuser, die vom Einsturz bedroht sind. Die Einwohner dieser Häuser befinden sich in einer schwierigen sozialen und finanziellen Situation. Einige sind Eigentümer, andere sind Mieter und die anderen sind dort, weil sie ein Dach über dem Kopf haben wollten. Das sind einige Beispiele von Problemen und Herausforderungen, die wir dringend bewältigen müssen. Dazu kommt das Problem der chaotischen Schwarzbaukonstruktionen, die nach der Revolution stark zugenommen haben.
Gibt es bestimmte Projekte, die Sie verwirklichen wollen?
Ja, sicher. Viele Länder haben mir gratuliert, ihre Freude über meinen Sieg bekundet und ihr großes Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit der Stadt Tunis gezeigt, damit die Stadt an einigen Projekten teilnimmt. Wir haben ein großes Projekt – und zwar die Abfallverarbeitung. Wir wissen, dass heutzutage die Verarbeitung der Abfälle Energie erzeugen kann; Metall könnte gewonnen und Wasser aufbereitet werden. Andere Abfälle könnten für die Landwirtschaft von großem Nutzen sein. In der Stadt Tunis stellt der Abfall eine große Belastung dar. Wir haben als Stadtrat im Rahmen der neuen Gemeindegesetze die Entscheidung getroffen, eine Zusammenarbeit zwischen der Stadt Tunis und den Privatinvestoren für ein Abfallprojekt einzuleiten. Wir sind gerade bei den Vorbereitungen für die gesetzlichen Konditionen des Projekts.
Werden Sie sich als Frau und Mutter stärker für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern einsetzen?
Ja. Selbstverständlich. Ich habe gestern einen Kindergarten besucht. Wir haben in allen Bezirken der Stadt nur 15 Kindergärten. Diese Zahl ist sehr gering. Es gibt viele private Kindergärten, aber viele vernachlässigen ihre Aufgabe. Wir bezwecken die Zahl der Kindergärten in der Gemeinde auszuweiten. In Bezug auf die Schulen hatten wir Kontakt mit dem Unterrichtsministerium, um Kompetenzen vom Ministerium zu erhalten und die Zusammenarbeit voranzutreiben. Wir haben ein Programm für die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium initiiert, um die Lage der Pflegezentren für Mütter und Kinder zu verbessern. Wir unterstützen auch die kleinen Kliniken, die unter der Verantwortung von uns als Stadtverwaltung stehen, damit sie vorbeugende Maßnahmen und die Suche nach Risiko-Krankheiten durchführen können. Die Früherkennung von Krankheiten erspart uns und den Bürgern viel Ärger und finanzielle Belastungen. Die kleinen Kliniken und die Fürsorgezentren für Mütter und Kinder nehmen in der Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium einen hohen Stellenwert ein.
Wir bedanken uns für das Interview.