last falling angel III

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LETZTER UND 3. TEIL
Autor: Hubert Krammer

was bisher geschah (siehe der.wisch 06 und 07): während c. nach einem missglückten selbstmord im koma liegt, versucht er sich als engel zu engagieren, nicht zuletzt wegen seiner vermutung, bei seinem suizidversuch auch gott getötet zu haben und ihn jetzt zumindest in seinem mikrokosmos ersetzen zu müssen. doch nach mehreren frustrierenden erfahrungen verliert er seinen enthusiasmus und wird in die illusion einer grauen, aber angeblich unveränderlichen realität geworfen. als er endlich landet, findet er sich am ausgangspunkt wieder, der gleichzeitig als lichtpunkt am ho- rizont seinen tunnel beleuchtet:

irgendwann hörte c. auf, dem junkie vor dem supermarkt geld und gute ratschläge zu schenken. das war geizig, denn weder das eine noch das an- dere war ihm bisher schwer gefallen, aber es war die erste grenze, die er sich und seiner potentiellen zielgruppe setzte. dann hörte er auf, die regen- würmer vom nassen asphalt zurück auf die wiese zu setzen, und beobach- tete ohne schuldgefühle, wie sie qualvoll austrockneten. der lauf des lebens, dachte er und ging an den zwei oder drei verwirrten vorbei, die sich vor seiner wohnung tummelten. er ließ sie nicht an sich heran und gab ihnen keinen anlass, ihn für sich arbeiten zu lassen.

die stimmen in seinem kopf verstummten und machten neuen neurosen platz. er drehte die münze um und wurde zum zyniker, der sich über seine umwelt lustig machte, denn nichts sorgte in den umliegenden kneipen für mehr erheiterung und tröstlichen beifall als die schwächen seiner normals- terblichen mitmenschen. ohne es zu wissen machte er dabei aber vor allem seine engsten kollegen, die anderen engel, die ihn überall umgaben und als anonyme wächter zu seinem schutz abkommandiert waren, zur zielscheibe seines spotts.

auf die dauer befriedigte ihn sein neues hobby jedoch nicht, im gegenteil bereute er seine bosheiten und ekelte sich immer stärker vor sich selbst. au- ßerdem war er so an streß gewöhnt, dass er von einer lästigen ruhelosigkeit befallen wurde und als engel ohne job begann, sich neue aufgaben zu stellen. es mußte doch noch irgendeine herausforderung geben, wie er sich weiter- hin konstruktiv betätigen konnte.

als revolutionär und sozialarbeiter gescheitert, dachte c., es wäre wohl das einzig sinnvolle, sich um die psyche der menschen zu kümmern, nur so könnten sie geheilt werden. er eröffnete eine ordination in seiner wohnung und gab eine annonce in der größten tageszeitung der stadt auf. in dieser anzeige, die er absichtlich zwischen die bibelinterpretationen prominenter kleriker und die leserbriefe religionsgestörter neurotiker mit doktortiteln quetschen ließ, versuchte er, das gefühl des unverstandenseins und des an- dersseins in einer ignoranten welt zur basis eines neuen therapieansatzes zu machen, als ausweg aus der ratlosigkeit. denn irgendwelche fernsehhel- den waren die philosophen seiner zeit und die waren genauso verrückt wie ihre regisseure. trotz oder gerade wegen seiner ungewöhnlichen anzeige war seine ordination, der er noch mit graffitis und videoinstallationen eine ent- spannende atmosphäre verliehen hatte, nach wenigen tagen vollkommen überlaufen.

schnell wurde ihm klar, dass das nicht der richtige job für ihn war, beson- ders wenn ihm angebliche schizophrene von ihren halluzinationen erzähl- ten, deren reale existenz ihm als engel schmerzlich bewusst war. mehrmals ließen klienten, nachdem er ihnen schweigend zugehört und sie anschlie- ßend mit den gewünschten drogen abgefüllt hatte, ihre dämonen bei ihm zurück. nun fühlten sich dämonen aber ganz anders an als er es erwartet hatte, sie drehten nicht die köpfe, erbrachen keine erbsensuppe und redeten nicht durch einen stimmverzerrer. dafür erschienen sie ihm in form von furcht, glaubenszweifeln, eingebildeten krankheiten und zitaten aus bekannten filmen und weniger bekannten büchern. eines dieser zitate, das ihn völlig aus der bahn warf, war: „engel sind passive wesen und vermitteln zwischen den welten. sobald sie einen freien willen entwickeln, werden sie gestürzt. in die freiheit.“

nachdem ihn die schlange wieder verlassen und sich seine identitätskrise etwas gelegt hatte, widmete er sich mit besonderer hingabe den atheisten, die seine praxis aufsuchten und solidarisierte sich mit ihnen. er betrachte- te das als auflehnung oder auch als beweis eines eigenständigeren denkens und näherte sich ihrem weltbild an, auch wenn es sich wie ein nasskalter duschvorhang anfühlte. doch seltsam war es schon, dass er sich gegen etwas auflehnte, an das er angeblich nicht glaubte. er begann phänomene, die er nicht verstehen konnte, mit thesen zu erklären und alles, was sich nicht in kausalitätsketten eingliedern ließ, als zufälle zu deklarieren.

als atheist gab er jedenfalls eine ziemlich jämmerliche figur ab, ihm fiel auf, dass er immer noch, sogar permanent mit jedem gedanken und jedem atemzug, betete – selbst wenn er fluchte, betete er noch und das im übrigen zu einem gott, den er doch selbst getötet hatte, wie ihm die erinnerung sagte und der ihn deswegen mit sicherheit nicht hören konnte. plötzlich verstand c., warum sich menschen, die jegliche spiritualität ablehnen, gleichzeitig so stark zu spirituosen hingezogen fühlen. sie neigten c.`s meinung nach auch stark dazu, zuviel und zu ungesund in sich hineinzustopfen und ihre kör- perpflege zu vernachlässigen, denn wer geist und seele verliert, findet sich auch nur schwer in den materiellen restbeständen zurecht. außerdem fiel ihm auf, wie einige sich über ihre bloße körperlichkeit zu erheben versuch- ten, indem sie ihre sprache verfeinerten und wunderbare fähigkeiten entwi- ckelten, sich auszudrücken. diese redegewandheit vermisste c. an sich selbst, weshalb er komplexeren diskussionen eher aus dem weg ging und sich auf diesen seiten auch kaum dialoge finden.

einer seiner klienten war ein geschäftsmann mitte dreißig, der ihm die börsenberichte statt seiner beschwerden klagte. anfangs amüsierte ihn die vor- stellung, nach zwei sitzungen aber erfasste ihn ein unbändiger zorn.

er ließ den mann auf der couch zurück und trat ins freie. über ihm kreis- te ein waffenstrotzender helikopter auf einer dieser rein humanitären frie- densmissionen, und c. beschloss, ihn abstürzen zu lassen. er wiederholte seine anschläge und war für einige spektakuläre todesfälle unter politikern und rüstungsstrategen direkt verantwortlich.

als er von dem krieg hörte, der unweit der grenze tobte – in der nähe des dorfes, wo vor kurzem die bauern unter seiner mithilfe ihre feudalherren getötet hatten – beschloss er, dem treiben ein ende zu setzen.

doch auf dem weg dorthin begegnete er einer liebe, die ihn einst verschmäht hatte und sein interesse von neuem weckte. er hatte keine zeit mehr für den krieg, den er sich womöglich nur eingebildet hatte.

sie begann, sich plötzlich ihrerseits für ihn zu begeistern, da er auf sie nicht mehr schwach und verletzlich, sondern wie ein introvertierter höhlen- mensch wirkte und sie ihre projizierte vater–tochtertragödie für seelenver- wandschaft hielt.

er verließ sie beschämt nach wenigen wochen, ohne sich zu verabschieden und wusste selbst nicht, ob er gerade etwas verpasst oder im gegenteil etwas erlebt hatte, aber so war es auch schon früher gewesen, wann immer er ver- suchte, etwas aus reinem pflichtgefühl oder einer norm zuliebe hinter sich zu bringen.

mittlerweile war offiziell der krieg vorbei, doch die narben waren lange nicht verheilt und der staub der detonationen hatte sich noch nicht auf die schande gelegt, mit der die menschen ihre eigene würde genauso getreten hatten wie die ihrer gegner. er registrierte das sofort, als er die grenze über- quert und in den schatten der ruinen getreten war.

c. fühlte sich abermals fremd und verunsichert, als er in das dorf zurück- kehrte, in dem alles angefangen hatte. unbewusst hatte er eine vorgeschrie- bene norm übertreten. er wusste nicht genau, was es war, seine hautfarbe, seine frisur oder seine kleidung, vielleicht hatten ihn auch einige wieder- erkannt und machten ihn für die eskalation des konflikts verantwortlich. jedenfalls war er anders, unterschied sich von den andern, geschmückt mit dem kainsmal, das alle fremden tragen, und wer glaubt, das sei eine aus- schließlich geographische dimension, hat keine ahnung von der fremde. er kam zu früh oder zu spät, jedenfalls war es der falsche zeitpunkt, soviel war sicher.

wie schafe unter die wölfe gejagt und den soundtrack vermissend, der sätze wie diesen üblicherweise in religiösen filmen begleitete, um den ausnahme- zustand erträglich zu machen.

der mob näherte sich ihm mit mißtrauen und stöcken in den fäusten. er hörte, dass sie einen ihm unbekannten götzen anriefen, dem sie eine infan- tile belehrung über gerechte und nicht gerechte hielten. vermutlich beteten sie um vergebung für das, was sie vorhatten, zu tun. sie hielten ihn für einen der feinde, die ihnen von den tatsächlichen aggres- soren als verantwortliche für ihr unglück gezeichnet wurden – eine ent- menschlichte karrikatur in den patriotischen blättern, die nicht den hauch von mitgefühl verdiente….

ab diesem moment begannen sich seine erinnerungen zu überschlagen und er fragte sich, ob es nicht der sprung aus dem fenster sondern eigentlich dieser hass gewesen war, der ihn ins koma geprügelt hatte.

c. erwachte im krankenhaus und starrte ärgerlich auf die maschine, die bei jedem seiner herzschläge einen hohen frequenzton ausspuckte – als würde wasser aus einem undichten hahn in eine wanne aus blech oder zumindest sehr billigem porzellan tropfen, ein geräusch, dass ihn seit monaten nervte. vermutlich hätte er niemals wieder die augen aufgeschlagen, hätte ihn nicht eine innere stimme zum aufstehen gezwungen, um den hahn abzudrehen und ungestört sein anderes Leben weiterzuführen.

die schwester, die sein zimmer betrat, fing an zu schreien und lief auf den gang. schreckte ihn endgültig aus seinem schlaf.

er humpelte auf einem krückstock durch die straßen, provozierte mit seiner erscheinung kleine wohlstandsverwahrloste kinder, die lachend steine nach ihm warfen.

seine linke kopfhälfte war in seinen hals gesunken und dort erstarrt, und sein gelangweilter gesichtsausdruck verriet die schwere und trägheit seiner gedanken.

keiner sprach mit ihm, und er hatte ohnehin keine lust, jemandem seine beweggründe zu erklären, warum er seine gestrandete existenz einer strahlenden karriere als bevorzugter bote im glitzerkostüm vorzog. er fühlte sich nicht krank, sondern hielt sich noch immer für einen engel, der sich ein- fach eine neue verkleidung zugelegt hatte, um länger unerkannt bleiben zu können.

aber er hatte nicht mit der hartnäckigkeit seiner rolle gerechnet. immer stärker beeinflusste seine äußere erscheinung sein ich, bis er fiktion und realität nicht mehr auseinanderhalten konnte.

er zog sich langsam zurück und versuchte, sein aufgeblasenes ego zu überwinden, bis er in ein anderes extrem pendelte, in die klonenhafte zwischenwelt gleichgültiger zeitverschwendung. plötzlich fand er sich in einer firma im industriegürtel wieder und schuftete bis zum umfallen, ohne genau zu wissen, für wen und was er eigentlich arbeitete. an ir- gendeinem punkt des produktionsprozesses gestrandet, erfüllte er eine sinnentleerte tätigkeit und verlor inmitten all der anderen lebenden to- ten seine exklusive sonderstellung.

als gott zurückkehrte, hatte er sich einen modernen kurzhaarschnitt, trendige klamotten und ein umfassendes repertoire an jugendlichen bewegungen zugelegt. um dem bilderverbot zu entsprechen – dass er ursprünglich nur eingeführt hatte, um keine bestimmte religion zu be- vorzugen – veränderte sich sein äußeres je nach beleuchtung und der ihn umgebenden umgebung, wie ein multiples chamäleon wechselte er beständig kleidung, frisur, größe und konturen. auch sein bzw. ihr ge- schlecht variierte und war selbst bei tageslicht nicht eindeutig zu kate- gorisieren.

c. fuhren die schuldgefühle tief in die magengrube, er fragte sich, ob er einfach wie zufällig aufstehen und ruhig fortgehen sollte, als ob er ihn nicht gesehen hätte oder es doch vorzog, die füße in die hand zu nehmen und schreiend davonzulaufen. dann verwarf er beide gedanken wieder, deren aussichtslosigkeit ihm schnell bewusst wurde. schließlich war er eindeutig seinetwegen hier, also bestellte er noch einen zusätzlichen thc-haltigen kräutertee und rückte einen stuhl zurecht. gott setzte sich und bat den kellner um die tarotkarten. trotz einer streng wissenschaft- lichen herangehensweise, die an mathematische präzision grenzte und die gott wie kaum ein anderer für sich beanspruchen konnte, tendierte er stark zu esoterik, okkulten ritualen und dem glauben an wunder- und spontanheilungen, die er jederzeit gegenüber den groben methoden der modernen schulmedizin bevorzugt hätte. sie tranken und spielten schweigsam, befragten die zukunft, wie sie wünschte, von ihnen gestaltet zu werden. als sie sich später voneinander verabschiedeten, schwankten sie beide, doch sie fühlten sich innerlich verbunden und stark.

danach wollten sie sich, einer alten gewohnheit entsprechend, in ein- ander entgegengesetzte richtungen auf den horizont zubewegen, gott üblicherweise gegen mekka, während c. die autobahn richtung westen entlang schritt, bis zur ersten streife, die ihn stoppte und in die ausnüch- terungszelle schleppte.

aber an diesem tag war etwas anders, sie schafften es einfach nicht, sich zu trennen. c. war das etwas peinlich, er dachte, dass gott noch immer auf die entschuldigung wartete, die er ihm bis jetzt schuldig geblieben war. „hör zu“, sagte er, „es war damals nicht meine absicht, dich zu töten. lass es uns einfach vergessen – es war ein unfall, nur ein unfall.“

„das war es nicht“, erwiderte gott und packte c. am kragen, „was hat- test du auf dem sims verloren?“ c. schauderte es bei der erkenntnis, dass er von gott körperlich attackiert wurde, denn er erinnerte sich an die schauergeschichten über den gefallenen engel, der es zuletzt gewagt hat- te, einen freien willen zu entwickeln. „was hattest du auf dem gottver- dammten sims verloren?“ wiederholte gott.

„das war es nicht“, erwiderte gott und packte c. am kragen, „was hat- test du auf dem sims verloren?“ c. schauderte es bei der erkenntnis, dass er von gott körperlich attackiert wurde, denn er erinnerte sich an die schauergeschichten über den gefallenen engel, der es zuletzt gewagt hat- te, einen freien willen zu entwickeln. „was hattest du auf dem gottver- dammten sims verloren?“ wiederholte gott.

dann umarmte er ihn, erst zärtlich, dann fester, bis es c. unerträglich wur- de. er flüsterte ihm noch einmal ins ohr: „was hattest du dort verloren?“ schließlich wurde c. aggressiv und versuchte gott zu schlagen, um sich aus seiner umklammerung zu befreien. gott schlug zurück und der spie- gel, mit dem er sich seit stunden angeregt unterhielt, barst in tausend stücke.

„hast du gut gemacht“, sagte gott und küsste ihn, doch c. hörte ihn nicht mehr und starrte auf seine blutenden hände. als ihm das pulsieren in sei- nem kopf endlich bewusst wurde, registrierte er staunend das leben.

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Künstler, Musiker, Autor, jobbt im Kinder-Jugendbereich, Studium Politikwissenschaft, lebt in Wien

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