Noah Hararis „Sapiens“

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Yuval Noah Hararis „Sapiens – A Brief History of Humankind“ oder „eine kurze Geschichte der Menschheit“, wie der deutsche Titel lautet, erreichte binnen kürzester Zeit nach seiner Veröffentlichung die Bestsellerlisten und steht seit nunmehr zwei Jahren in der Liste der Top-5-Sachbücher der Spiegel-Bestsellerliste. Das hebräische Original wurde bereits 2011, die englische Version 2014 veröffentlicht und ist mittlerweile in über 45 Sprachen übersetzt.

Ursprünglich spezialisiert auf mittelalterliche Militärgeschichte, widmet sich der Universitätsprofessor der Universität Jerusalem der Menschheitsgeschichte und der Makrohistorie. Seine Faszination besteht nicht nur in seinem leichtgängigen, ja vielerorts humoristischen Stil; auch nicht nur darin, dass er interdisziplinäres Wissen aus Genetik, Ökologie, Wirtschaftswissenschaften oder Philosophie heranzieht. Die Anziehungskraft liegt für den menschlichen Leser vor allem darin, gleichsam die eigene Stammesgeschichte seit Anbeginn der Menschheit bis heute, ja sogar bis ans Ende der Geschichte lesen zu können. Eine Geschichtsschreibung aus der Vogelperspektive, die keine Detailaufnahmen liefert. Dennoch gelingt es Harari, auch wenn er keine individuellen Akteure und Helden und deren Schicksale beschreibt, eine erstaunliche Dramaturgie aufzubauen, indem er seine Leser teilweise schockiert, teilweise wieder versöhnlich stimmt, gleich einem Drehbuchautor einer erfolgreichen Fernsehserienproduktion.

Vom Geschöpf unter vielen zum Gott – die Geschichte der großen Revolutionen

Das Narrativ des Sapiens kann leicht als eine stetige Entwicklungskurve, die durch einige wenige, wichtige Punkte durchgeht, beschrieben werden: die, wie Harari sie nennt, kognitive Revolution, die landwirtschaftliche Revolution, die große Vereinheitlichung der Menschheit durch Geld, Imperien und Religionen sowie die wissenschaftliche Revolution.

Die kognitive Revolution – Geschichte als Biologie mit anderen Mitteln

Harari führt den Begriff der kognitiven Revolution ein, den er von den Psychologen und Sozialwissenschaftlern übernimmt und für die Geschichtswissenschaft neu definiert: Erst das Denken von materiell nicht existenten Begriffen wie Stammesgeist, Gesellschaft mit beschränkter Haftung und Nation habe es Sapiens ermöglicht, in großen Gruppen zu kooperieren: Harari nennt dies Mythen. Objektiv gesehen ohne physische Existenz, entbehrten zwar Begriffe wie Nation oder Firma einer konkreten Realität, in der subjektiven Wahrheit der Menschen seien diese „Dinge“ jedoch nicht nur existent, sondern weitaus mächtiger als physische Dinge, könnten sie doch Macht auf die physische Welt ausüben. Und mit dieser Macht sei es Sapiens gelungen, nicht nur in der Nahrungskette aufzusteigen, sondern seine hominiden Familienmitglieder wie Neandertaler oder Denisova-Menschen zu verdrängen.

Geschichte beginnt für Harari mit der kognitiven Revolution. Die Entfremdung von natürlichen Zwängen durch die kognitive Revolution habe die Evolutionsgeschichte des Menschen auf eine geschichtliche Ebene gehoben und von selektiven Mechanismen entkoppelt. Die Entwicklung der Menschheit ist auch in der Tat nicht durch natürliche Evolutionszwänge und biologische Mechanismen erklärbar, die Erhaltung und Entwicklung des menschlichen Genoms ist nicht verständlich ohne die Kenntnis von geschichtlichen Mechanismen und von Begriffen wie Revolution, Religion oder Imperien, die nicht biologische Eigenschaften herauszüchten, sondern bestimmte Mythen und Kulturen. Kulturen hätten dementsprechend die Rolle des Genoms übernommen, die sich genauso wertneutral wie Gene durchsetzten oder verschwänden. Eine Wertigkeit von Kulturen lehnt Harari entsprechend ab, denn äußere Umstände mögen zwar das eine Gen oder die andere kulturelle Eigenheit in einem bestimmten Kontext bevorzugen, in einem anderen jedoch wieder genauso gut benachteiligen.

Versklavung durch Pflanzen

Während der landwirtschaftlichen Revolution, für Harari die zweite große Revolution, ist der Mensch sesshaft geworden. Reis, Mais und Weizen wurden unabhängig voneinander an mindestens einem halben Dutzend Orte, verteilt auf Afrasien und die Amerikas, domestiziert. Für den Menschen seien aber laut Harari die Lebensbedingungen nicht besser, sondern schlechter geworden. Die wöchentliche Arbeitszeit sei im Vergleich zu Sammlern im Schnitt um zehn Stunden gestiegen, die Ernährung einseitiger geworden, Anfälligkeiten für Krankheiten und Epidemien seien gestiegen und schließlich die Lebenserwartung halbiert worden. Nicht der Mensch habe den Weizen domestiziert – wörtlich: „häuslich gemacht“ – , vielmehr habe der Weizen den Menschen domestiziert und damit dafür gesorgt, dass ein paar unscheinbare Getreidesorten wesentliche Teile der Landoberfläche besiedelten –  eine von vielen erfrischenden, mancherorts verstörenden Out-of-the-Box-Sichtweisen Hararis. Der Mensch sei gleichsam in die Getreidefalle getappt und könne dort nie wieder heraus. Was jedoch ist auf der Habenseite für Sapiens? Für Harari: Nichts. Diese unbefriedigende, wenngleich originelle Erkenntnis lässt er einfach im Raum stehen. Harari will hier keine zielgerichtete Entwicklung oder eine Weisheit sehen, Evolution sei ja blind und wertneutral. Doch selbst wenn man den Schritt mitmacht und die fragmentarisch belegte Vergangenheit zu einer These der Verschlechterung der Lebensbedingungen des Sapiens zusammenfügt, wird man das schale Gefühl nicht los, Harari verschließe seine Augen vor einer hikmah, einem Sinn, der dafür gesorgt hat, dass 10.000 Jahre später eine Milliardenbevölkerung gerade durch landwirtschaftliche Produktion überhaupt ernährbar bleibt.

Geld, Religionen und Imperien

Dennoch bewegt sich für Harari die Geschichte auf ein Ziel zu, das Ziel einer großen, globalen Menschheitsgemeinschaft – und darüber hinaus in den Transhumanismus, in die, wie von ihm verstandene, Göttlichkeit. Er spielt mit seiner Kapitelüberschrift „The Arrow of History“ sowie auch schon mit dem Untertitel seines Werks, „A Brief History of Humankind“, bewusst auf Hawkings „Brief History of Time“ an. Geschichte sei zwar nicht zielgerichtet in dem Sinne, dass man daraus die Überlegenheit einer bestimmten Kultur oder Religion deterministisch herleiten könne, auf Makroebene jedoch weise die menschliche Geschichte durchaus eine Richtung auf, analog zum Zeitpfeil in der Physik: es gehe in eine immer einheitlichere, globalere Richtung mit uns Menschen. Und Geld, Religionen und Imperien sind für Harari die großen Vereinheitlicher der Menschheit: durch die Erfindung des Gelds sei Handel möglich geworden, der den Austausch von Waren über große Entfernungen ermöglicht habe. Geld transzendiere Kulturen und Religionen, denn die Sprache des Handels, vereinfacht durch Geld als Platzhalter für Werte, ist verständlich für alle Menschen. Religionen – und seine Religionsdefinition kommt der Idee des din sehr nahe, betrachtet Harari doch auch beispielsweise den Humanismus oder den Liberalismus als Religionen, die ihre eigenen Credos und Wertmaßstäbe hätten – seien der zweite große Vereinheitlicher der Menschen. Monotheistische Religionen, von denen er annimmt, dass diese per se intoleranter und gewaltaffiner (und damit überlebensfähiger) seien, hätten in den letzten 2000 Jahren fast alle animistischen und polytheistischen Religionen verdrängt. Und schließlich Imperien, die neben all dem Gräuel, das sie anrichteten, für größer zusammenhängende Wirtschaftsräume sorgten. Diversität ist für Harari zum Scheitern verurteilt, und so führt er auch das Beispiel von Numantia an, der letzte Hort des Widerstands der Kelten auf der iberischen Halbinsel, das vom römischen Imperium nach langen Kriegen und Belagerungen letztendlich doch erobert wurde – und keinerlei Spuren in der Geschichte hinterließ, ja von der lateinischen Kultur verschluckt und verdaut wurde.

Die Heirat von Macht und Wissenschaft

Mit der Moderne sei die wissenschaftliche Methode erfunden und deren Nutzung in den Dienst kapitalistischen und imperialen Wachstums gestellt worden. Harari führt das Beispiel der chinesischen Expedition unter Zheng He an und vergleicht diese mit Columbus‘ legendärer Entdeckungsreise: Obwohl in seiner Ausführung und hinsichtlich der ihr zur Verfügung stehenden Mittel der Expedition Zheng Hes weit unterlegen, war Columbus Entdeckungsreise viel nachhaltiger und bildete den Startschuss ins Zeitalter der europäischen Expansion. Als wesentlichen Grund dafür sieht Harari die Hoffnung auf die Zukunft – das immer wiederkehrende Anathema im Sapiens, der Glaube an gemeinsame Mythen –, die den Investoren in solche Expeditionen große Gewinne versprachen.

Und schließlich seien spätere Expeditionen und koloniale Projekte oft genug auch nur von Firmen wie der niederländischen oder britischen Ost-Indien-Gesellschaften durchgeführt worden, Firmen, die an Erfolgsgeschichte und Gewinn alles bisher dagewesene in den Schatten stellten. Nicht nur seien diese Kolonisationen oft genug durch private Investoren finanziert worden, oft seien auch Wissenschaftler auf diese Expeditionsreisen mitgefahren, die dann neben der Akkumulation von Geld auch zur Anhäufung von Wissen geführt hätten.

Überhaupt sei die Erkenntnis, dass man nichts wisse, zum Motor für die wissenschaftliche Revolution geworden. Schließlich hätten Imperien den Wert von wissenschaftlichem Vorsprung erkannt, um sich durch deren Ausbeutung Vorteile im internationalen Machtkampf zu verschaffen.

Probleme der Makrohistorie

So originell auch Hararis Ansatz ist, Geschichte mit Biologie, Wirtschaftswissenschaften, Religionswissenschaften und anderen Disziplinen zu vermengen, kommt er doch nicht ohne einen Preis. Oft gehen Hararis Exkurse in andere Fachbereiche nicht über enzyklopädisches Wissen hinaus, so dass man sich am Ende fragt, ob außer Sensationseffekten etwas hängen bleibt. Dabei liefert Harari kaum neue Erkenntnisse. Vielmehr mischt er Schulbuchwissen über Archäologie, Genetik, Sozialismus, Kapitalismus, Humanismus und andere Ideologien und Religionen neu durch und präsentiert sie dem Leser in seinem Narrativ der Menschheitsgeschichte. Man mag natürlich einwenden, dass es in der Makrohistorie ja genau darum gehe. Am Ende hat man schließlich ein einfaches Bild, das man über die oben angedeuteten vier Stationen in simplen Worten wiedergeben kann.

Allein, der Teufel steckt im Detail. Noah Hararis These vom Menschen als Krieg führendem, genozidalen Primaten entbehrte schon bald nach der Veröffentlichung seines Bestsellers seiner empirischen Grundlagen: die weit verbreitete und auch im Volkswissen populäre These, dass speziell die Art des Sapiens ein besonderes Gen für aggressives Verhalten hervorgebracht und dadurch begonnen habe, den Planeten zu beherrschen, entbehrt nicht nur archäologischer Beweise, sie ist mittlerweile widerlegt (https://www.youtube.com/watch?v=66IeDfeGbzA, https://www.salon.com/abtest2/2012/05/28/is_aggression_genetic/). Genauso verfehlt ist seine Annahme, dass Sapiens auf seiner Migration von Afrika nach Australien und später in die Amerikas eine Spur von ausgerotteten Wildtierarten auf seinem Pfad hinterlassen habe. Denn offenbar wanderten die modernen Menschen schon mindestens 10.000 Jahre früher, zum Höhepunkt der letzten glazialen Periode, in die Amerikas (https://www.sciencedaily.com/releases/2017/01/170116091428.htm), und das Verschwinden der meisten Säugetiere in Nordamerika mit einem Gewicht von über 50 kg fällt damit nicht mehr mit dem Auftauchen des Sapiens in Nordamerika, sondern möglicherweise mit einem anderen Ereignis im Jüngeren Dryas zusammen: Heiß diskutierter Kandidat als Auslöser für den Rückfall in eine neuerliche glaziale Periode und für eines der größten Artensterben seit dem k-t-Event könnte ein Asteroid sein, dessen Krater im Herbst 2018 in Grönland entdeckt wurde (https://www.sciencenews.org/article/greenland-impact-crater-top-science-stories-2018-yir).

Im Gegenteil deutet vieles darauf hin, dass Sapiens eben durch seine besondere Gabe zu kooperieren den Planeten durchdrungen hat.

Auch sein Ausblick auf einen Transhumanismus, der das menschliche Bewusstsein überflüssig macht, setzt, davon abgesehen, dass er, wie er auch selbst einräumt, sehr spekulativ ist, darauf auf, dass Geschichte kontinuierlich und in einer bestimmten Pfeilrichtung stattfindet. Insofern ist seine These, dass Geschichte mit der Geburt von abstrakten Ideen im menschlichen Geist beginnt und mit dem Ende des menschlichen Geistes aufhört, schlüssig; aber zum einen fehlt uns heute jeder Anhaltspunkt, dass menschliches Bewusstsein auf Silizium und damit künstliche, a-mortale Lebensformen transzendiert werden kann.

Zum anderen gab es in der Menschheitsgeschichte genügend Beispiele, die einem Gradualismus, also einer kontinuierlichen, graduellen Entwicklung, widersprechen: ein solches Beispiel nennt er selbst mit dem Ende der amerikanischen Zivilisationen bei der Ankunft der spanischen Eroberer. Aus Sicht der Azteken und Inka endet ihre Geschichte mit Cortez und Pizarro durch ein katastrophales Ereignis. Seine Argumentation, dass lokale Rückschläge durch das Gesamtbild ausgebügelt werden, beachtet z.B. nicht den Einfluss großer, globaler Klimaveränderungen, die in der Lage waren, jedwede graduelle Entwicklung katastrophal auf einen Anfangswert zurückzusetzen. Die Frühgeschichte der Menschheit ist nur sehr schlecht mit archäologischen Daten belegbar. In der letzten interglazialen Periode vor 130.000 Jahren hatte die Menschheit, ähnlich wie in der aktuellen, über 10.000 Jahre Zeit, Hochkulturen zu entwickeln. Die Menschen waren damals genetisch betrachtet dieselben wie heute, und in Ermangelung des Nachweises eines „Mythos-Gens“ ist eher davon auszugehen, dass auch damals Menschen Mythen entwickelt und in großen Gruppen kooperiert haben. Dazwischen liegen zigtausende Jahre, die an sich schon ausreichen, zarte Hinweise auf mythenbildende Kulturen auszulöschen. Die Jahrzehntausende überdauern jedoch nur die Steinwerkzeuge von Jägern und Sammlern.

Die Art, wie Harari seine graduelle Kurve durch für ihn wesentliche Merkmale legt, ist dementsprechend willkürlich. Eine sehr genaue Deckung erreicht diese Kurve folgerichtig in der Moderne, und als Leser fühlt man den Kurvenverlauf der Geschichte im Bereich der Moderne bestätigt. Doch auch die Auswahl von Zheng Hes Expedition im Vergleich zu Columbus‘ mutet an, als sei die Absicht dahinter, den „Zeitpfeil der Geschichte“ richtig zu konstruieren. Ein anderes legitimes Beispiel hätte z.B. der Vergleich mit der westafrikanisch-andalusischen Seefahrt sein können. Fuat Sezgin deutet beispielsweise an, dass westafrikanische Expeditionen, vielleicht sogar regelmäßige Handelsfahrten von Westafrika nach Brasilien und bis nach Indonesien stattfanden, lange, bevor diese Seewege durch den Imperialismus genutzt wurden.

Gleichermaßen mutet er Imperien mehr „Vereinheitlichungspotential“ zu, als dies eventuell der Fall gewesen sein mag: gewiss, im Fall der Verdrängung der keltischen Kultur durch das lateinische Imperium mag sein Beispiel stimmen. Aber auch nur deshalb, weil das technologisch-kulturelle Gefälle zugunsten der Römer war. Andere Beispiele in der Geschichte sind anders verlaufen: als die Römer das östliche Mittelmeer eroberten, kamen sie als barbarische Eroberer (wie das lateinische Sprichwort „ex oriente lux“ eindrucksvoll belegt). In kürzester Zeit wurde Rom hellenisiert, weil der Hellenismus die vorherrschende Kultur war und das „kulturelle Gefälle“ zuungunsten Roms war. Ostrom ist entsprechend als hellenischer Staat untergegangen bzw. lebte mit seinem Verwaltungsapparat und seiner Philosophie im Omajjadenreich und sogar im osmanischen Reich weiter. Ganz ähnlich verhielt es sich mit dem Mongolensturm: Zwar überrannten die Heere von Dschengis Khan und seinen Nachfolgern binnen kürzester Zeit fast die gesamte bekannte Welt, versetzten dem islamischen Reich sogar einen solchen Schlag, von dem es sich nie wieder erholen sollte; dennoch verschwand die nomadische Kultur der Mongolen ebenso schnell wieder und wurde von der indischen, persischen und russischen Kultur aufgesaugt. Eine Vereinheitlichung der menschlichen Kultur erreichte weder Rom im östlichen Mittelmeer noch die Mongolen in Eurasien.

Sein Argument, dass Enterpreneure aus Europa in der Hoffnung und Voraussicht auf zukünftige Gewinne in der Ausbeutung neu „entdeckten“ Lands die kapitalistische Weltordnung mitbegründet hätten, ist wenig stichhaltig. Denn die Eroberung der Amerikas ist immer noch vergleichbar mit den Eroberungen Roms oder denen der Mongolen, die ebenfalls schnell amortisierte Rüstungsausgaben durch große (Beute-)Gewinne erzielten. Erstere marschierten in ihren caligae, zweitere ritten auf den Rücken von Pferden, und die Spanier wurden von Schiffen getragen. Nein, eine solche Teleologie, basierend auf dem Ist-Zustand und dem Blickwinkel von heute und den Überlieferungen der Sieger, ist fehlgeleitet: denn zum einen geht ja die Geschichte weiter und ist nicht abgeschlossen.

Zum anderen ist sie selektiv in der Wahrnehmung der Ereignisse. Harari schreibt selbst, dass, wie in einem chaotischen System, kleinste Ursachen größte geschichtliche Auswirkungen haben könnten. Und wie viele dieser winzigen Auslöser übersieht die Geschichtsschreibung, übersieht die Harari‘sche Narrativbildung? Und die Auswirkungen selbst sind ja nur Mythen, Begrifflichkeiten von geschichtlichem Erfolg oder Misserfolg, von Sieg oder Niederlage. Der Vertrag von Hudaibiyah beispielsweise wurde von muslimischen Zeitgenossen als Schmach und Demütigung wahrgenommen und hätte es nie in die Geschichtsbücher geschafft; der Qur’an bezeichnet ihn hingegen als „den offenkundigen Sieg“. Erst der weitere Verlauf der Geschichte zeigte, dass jener Vertrag tatsächlich keine Niederlage, sondern der Wendepunkt im Sinne des medinensischen Stadtstaats war.

Am inspirierendsten erscheint im Rückblick Hararis These, dass das Festhalten an gemeinsamen Ideen Menschen zur Kooperation über Grenzen hinweg befähigt. Doch wie wäre es hiermit: Das menschliche Potential liegt vor allem in der Fähigkeit, durch horizontale Verteilung und vertikale Beerbung einer begrenzten Zahl an Worten nahezu unendlich viele Bedeutungen zu rekombinieren, die mit der Zahl der Generationen und der Zahl der Individuen und der Effizienz des Bedeutungsaustauschs rapide zunehmen. So gesehen ist dann doch eine wesentliche Kausalität, wenngleich kein Determinismus, zu erkennen, die zur Blüte bestimmter Zivilisationen beiträgt: denn der schiere Bevölkerungsüberschuss in Europa hat zusammen mit der Durchlässigkeit und Erreichbarkeit von Bedeutungen zwischen den Menschen zur wissenschaftlichen Revolution im Westen geführt und diesem einen Vorsprung vor den konkurrierenden Imperien Afrasiens geliefert.

Bildnachweis: https://paperpull.com/

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About Author

Nach seinem Abschluss an der TU-Darmstadt verschlug es Murat Gürol nach Wien, wo er zwischen 2005 und 2008 Islamologie am Islamologischen Institut studierte. Er ist seit 20 Jahren tätig in der Softwarebranche.

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