DAS WORT HEBT EINE GRENZLINIE HERVOR, WIR SIND NICHT IHR, SONDERN WIR SIND ANDEREN
Autor: Ali Haydar Gündoğdu
Das „Andere“ gibt es nicht: so lehrt der „vernunftgemäße Glaube“, die unheilbare Überzeugung menschlicher Vernunft. Identität = Realität, als ob am Ende mit absoluter Notwendigkeit alles „ein und dasselbe“ sein müsste. Aber das „Andere“ lässt sich nicht aus der Welt schaffen: es besteht beharrlich fort, es ist der harte Knochen, an dem die Vernunft sich die Zähne ausbeißt.
Antonio Machado
Die Geschichte Lateinamerikas ist vor allem die Geschichte einer Identitätsbildung. Beiläufig ist sie auch der Wiederaufbau des von den Konquistadoren zerstörten Kontinents. Eine Identität aus vielen Komponenten, nämlich Wurzeln der alten Kulturen, europäische Konquistadoren und Sklaven aus Afrika.
Beginn bzw. erste Meilensteine dieser Bewegung waren die gegen Spanien gerichteten Unabhängigkeitskriege (1808-25).
Die Unabhängigkeitsbewegung wurde zuerst von den Criollos ausgelöst. Criollos sind die Nachfahren von europäischen – meist spanischen – EinwanderInnen. Die mit der Zeit entstandene neue regionale Elite wünschte nicht nur ökonomisch-kulturell sondern auch politisch an die Macht zu kommen. Sie hatte Angst, dass der Sturz der spanischen Monarchie durch die Unabhängigkeitsbewegungen ihre eigene Souveränität in Form einer hegemonialen sozialen Privilegiertheit gefährden könnte. Deshalbmusste sie sich von der Monarchie verselbstständigen. Obwohl die alten Zivilisationen von ihren eigenen Vorfahren ausgerottet worden waren, haben sie dafür die alte Kultur und Geschichte der indigenen Völker wieder entdeckt und diese Kultur als die Ecksteine einer neuen lateinamerikanischen Formation rezipiert.
Das Motto war „Wir sind Amerika“, das heißt, dass die indigenen Völker und die Criollos unter einem Dach vereinigt werden sollten. Am Anfang war es ein bloßes Instrument, aber später ist aus dieser Instrumentalisierung eine grundlegende Selbstbesinnung des lateinamerikanischen Bewusstseins entstanden: „Raza de Bronce“, „Eurindia“, „Mestizismo“. Trotz der Bemühung der Criollos hatten die Unabhängigkeitskriege hauptsächlich Doppelcharakter. Criollos und Indigene Völker setzten sich gemeinsam gegen Spanien durch, aber die Indigenen Völker versuchten auch sich gegen die Criollos aufzulehnen: Die Kolonialkriege waren auch Bürgerkriege.
Nachdem das spanische Joch abgeschüttelt war, kam der Kontinent dennoch kaum zur Ruhe. Carl Heupel etwa sagte dazu, dass der nordamerikanische Wirtschaftsimperialismus seine schmierigen Hände nach diesen jungen Länder ausstreckte, um das von der spanischen Monarchie hinterlassene Vakuum zu füllen.
Es ist nicht meine Absicht hier die Chronologie der Kolonialgeschichte darzustellen. Statt dessen werde ich von einem Pionier, nämlich José Martí, sprechen, der nicht nur die geographische, sondern auch die soziale Einheit Lateinamerikas forderte, und damit in gewissem Maße die lateinamerikanische Identität ausgeformt hat.
Beim Aufbau der lateinamerikanischen Identität
Ein falsches Leben trägt an sich das richtige.
Die Loslösung von den Kolonialmächten bedeutete nicht, dass Lateinamerika sich von der Kolonialstruktur und von der feudalistischen Ausbeutung befreit hatte. Bevor der Kern der lateinamerikanischen Identität sich gebildet hat, traten einige Wackelkandidaten auf, einer davon war der argentinische Schriftsteller und Politiker Domingo Faustino Sarmiento. Er hat diese Problematik zum ersten Mal thematisiert. Der Argentinier lehnte sichgegen die Diktatur Juan Manuel de Rosas (1829-32)- (1835-52) auf und wurde später zum Präsidenten gewählt (1868-74). Mit seinem berühmtesten Werk „Barbarei und Zivilisation“ behandelte Sarmiento die argentinische „Identitätsbegründung“. Für seine Nachfolger war Sarmiento in der Identitätsbildung ein Negativbeispiel, weil er die Rassenvermischung ablehnte und die Vereinigten Staaten nachzuahmen befürwortete. In Sarmientos Pensamiento (Denken)verkörperten die Landschaft unddie argentinischen Caudillos[1](Milizenführer) die „Barbarei“ und das ihr gegenüberstehende Element, die Stadt Buenos Aires, repräsentierte die „Zivilisation“.
Mit Rodó hat der Weg zwar nicht ganz aber bis zu einem bestimmten Grad eine gegenläufige Richtung eingeschlagen.
„Was ist das Besondere Lateinamerikas?Und worin unterscheidet sich Lateinamerika von Europa?“ waren anfängliche Fragen. Zugefügter Vermerk von Rodó war, dass die USA der neue Leviathan seien. Die Vereinigten Staaten, die bisher wegen ihrer Unabhängigkeitserklärung Vorbildcharakter für die Südländer gehabt hatten, verloren diesen Status zunehmend. Sie wurden zur neuen politisch-ökonomisch-kulturellen Gefahr für Iberoamerika.
Rodó konnte sich von Sarmientos Ideen nicht vollständig losreißen, weil in seinem Werk die schwarze und die indigene Kultur noch nicht berücksichtigt waren. Sein Werk war für die Criollos wie ein Schild, der das Minderwertigkeitsgefühl der Criollos gegenüber den USA abmilderte. Dennoch stellte sein Werk „Ariel“ eine Stufenleiter und einen Übergang zu den nächsten Schritten dar.
José Martí
Eine Philosophie der Befreiung.
Der kubanische Poet, Schriftsteller und Philosoph Marti (geb. 1853 in Havanna und verstorben 1895 in Dos Rìos) begann mit 16 Jahren zu schreiben. Der bahnbrechende Protagonist ist zunächst mit einem Theaterstück (Abdala) aufgetaucht. Er äußerte sich in eindrucksvoller Weise und drückte ein neues Lebensgefühl aus.
Er trat mit seinen Schriften „Nuestra América“ ein neues lateinamerikanisches Identitätsbild los. Obwohl Martí mit Spanien eine enge historische, sprachliche, künstlerisch-literarische Gemeinsamkeit verband, artikulierte er zuerst die Differenz zwischen Kuba und Spanien. Er sah auch die USA für die Zukunft des Kontinents als bedrohlich. „Unser Amerika“ erschien 1891 in der Zeitschrift „La Revista Ilustrada de Nueva York“ und das Werk entsprach den kulturell-politischen Bedürfnissen Lateinamerikas. Martís „Unser Amerika“ bildet sich aus kultureller Heterogenität, nämlich Kreolen, Indigenen Völkern und Afrosklaven. Nach Martí bestimmt die Hautfarbe weder Kultur noch Denken noch Fühlen. Deswegen ist der Begriff der Rasse für ihn eine leere, hohle, nichts sagende Worthülse.
„Kuba ist das – nicht perfekte, aber tatsächlich vorhandene – Sinnbild ´Unseres Amerikas´, der Keim. ´Unser Amerika´ ist einer der zentralen Begriffe, geprägt von José Martí und heute noch Leitbild der um Befreiung kämpfenden Völker dieses Amerikas in ihrem Wissen, dass eine eigenständige, unabhängige Entwicklung nicht mit, sondern nur gegen die hegemoniale Vormacht USA möglich ist“[2]
Die bis vor ihm oft diskutierte Dichotomie von Lateinamerika als „Barbarei und Zivilisation“ war nach ihm eine Trugwahrnehmung. Martí dachte den Hauptgegensatz zwischen „Fremd- Selbstbestimmung“.
– DasErkennen und Verstehen der eigenen Geschichte sind zwei Stützpunkte der Befreiung.
– Das Wesen des Menschen drückt sich in der Praxis und in seiner Kreativität aus und nicht bloß in rationalistischer Weise.
– Die Geschichte Amerikas muss einen neuen Weg bestimmen und in diesem Sinne sind Inkas als Amerikas „Griechen“ zu sehen.
Diese Ideen haben sich im 20. Jahrhundert in den Kreisen der lateinamerikanischen Denker eingebürgert. Martí war überzeugt, dass die neue Gesellschaft erst möglich wäre, wenn die Struktur der Unterdrückung ausgelöscht würde. Mit dieser Grundannahme ist Martí zu einem Pionier der lateinamerikanischen Befreiungsbewegung und Identität geworden.
Es ist eine Tatsache, dass Martí in dieser Frage ein Pionier aber keineswegs allein war. Die Selbstbestimmung Lateinamerikas haben u.a. Alfonso Reyes, Alcides Arguedas, Gilberto Freyre, Manuel González Prada, Martínez Estrada und Ricardo Roja mitbewirkt. Die wesentlichste Vision von allen war die Zerstörung aller Formen der Unterdrückung. Die Welt wurde von unten nach oben betrachtet, die „Rassenvermischung“ positiv berücksichtig und Lateinamerika als der „Kontinent der Zukunft“ angesehen.
Literatur:
Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas, 1992
Ottmar Ette, José Martí, 1991
Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit, 1970
José Martí zum 100. Todestag, 1995
[1] Caudillo bedeutet der Anführer, heute verwendet man für eine faschistischleitende männliche Person, mit der Diktatur Franco wurde das Wort berühmt.
[2] José Martí zum 100. Todestag, Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba e. V. (Hrsg.), Achen, 1995