Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“: Von der Verführungskraft biologistischer Metaphern

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Großes Aufsehen erregte Spenglers Werk bei seinem Erscheinen 1922. Vieles von dem Hype um dieses Werk ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Kopfschüttelnd stehen wir vor der groß angelegten Skizze, Geschichte noch einmal ohne Abgleiten in teleologische Spekulationen neu zu denken.

Spenglers Kulturbegriff

Spenglers Werk erscheint im Anschluss an den 1. Weltkrieg. Die Katastrophe, in denen die hochtrabenden Fantasien von Kulturnation, wahren humanistischen Werte und den deutschen Gipfeln von Dichtung, Kunst und Philosophie endgültig in den Materialschlachten zerstoben waren, hatte offensichtlich den Bedarf nach einer befriedigenden Deutung des Geschehenen und der Geschichte nur noch gesteigert. Für Spengler (1880-1936) ist die Zahl der weltgeschichtlichen Erscheinungsformen begrenzt. Es wiederholen sich die Zeitalter, Epochen und Charaktere. Die Gemeinsamkeiten von Napoleon mit Alexander dem Großen waren schon anderen vor ihm aufgefallen. Der Vergleich von Florenz auf dem Höhepunkt der Renaissance mit Athen war auch nicht neu. Solche fragmentarischen Vergleiche, so Spengler, seien jedoch zu wenig. Er strebt eine Technik der Vergleiche an, die methodisch vorgehen müsse. Obwohl der Boden bereits „metaphysisch erschöpft“ sei, solle eine Philosophie der Zukunft vorgebracht werden. Am Ende solle keine Weltgeschichte stehen, sondern die Beschreibung einzelner Kulturen, die in sich sinnvoll und abgeschlossen seien. Zwischen den großen Kultursystemen sieht er – fensterlosen Monaden gleich – keine Verbindungen. Eine Kultur wird wie eine Pflanze geboren, durchläuft bestimmte Stadien, um schließlich zu vergehen. Auch die Zivilisation des Abendlandes steht vor dem Verlöschen und dem könne man sich nicht entgegenstellen. Sei die abendländische Kultur erst einmal abgetreten, so würde es wahrscheinlich nie wieder eine Kultur geben, für die Weltgeschichte von so zentraler Bedeutung sei. Denn das Besondere an der westeuropäischen Kultur ist das Denken in weltgeschichtlichen Kategorien. Welche Kulturen und wie viele von ihnen finden sich als objektiver Tatbestand? Erstaunlich ist die Spenglersche Neigung, feinsäuberliche Schubladen und genaueste Kategorisierungen zu bilden. Während man heutzutage eher das Prozesshafte von Kulturen in den Vordergrund der Betrachtung rückt, finden sich bei Spengler genau acht abgrenzbare Hochkulturen:

  1. Ägyptische Kultur
  2. Babylonische Kultur
  3. Indische Kultur
  4. Chinesische Kultur
  5. Antike (griechisch-römische Kultur)
  6. Arabische Kultur (erstaunlicherweise wird hierzu auch die frühchristliche und byzantinische Kultur gezählt)
  7. Aztekische Kultur
  8. Abendländische Kultur: seit 900 n. Chr. in Westeuropa.

Alles wird zwanghaft durch eine Obergrenze von 1000 Jahren abgeschlossen. Entsprechend muss auch der Beginn der abendländischen Kultur so spät (nach Karl dem Großen!) angesetzt werden, damit sie in Spenglers Gegenwart auch den Abschluss finden kann. Während erstaunlicherweise das Christentum zur arabischen Kultur gezählt wird, wird die russische Kultur definitorisch abgetrennt. Sie sei der neunte Kultur-Organismus, der sich in Zukunft herausbilden würde.

Ablehnung der Epocheneinteilung

Die Einteilung der Weltgeschichte in die drei Epochen Altertum, Mittelalter, Neuzeit ist klarerweise, und da hat Spengler recht, eine begrenzte (spezifisch eurozentrische) Perspektive. Sie stellt keine Einteilung dar, die sich dem Betrachter aus dem Material der einzelnen Phänomene her aufdränge, sondern sei eine Konstruktion mit klaren ideologischen Absichten. Ursprünglich habe es nur die Einteilung von Altertum und Neuzeit gegeben. Diese entsprach dem Gegensatz von heidnisch und christlich, also von böse und gut. Die Hinzufügung der Neuzeit als dritte Epoche geht auf das berühmte Schema des Geschichtstheologen Joachim von Fiore (gest. 1202) zurück, der die Geschichte aus christlicher Perspektive mit der Dreieinigkeit verknüpfen wollte: drei Zeitalter, die jeweils dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist zugeordnet würden.


Dieses Denkmuster wurde enorm häufig übernommen, adaptiert und vereinnahmt. Am Ende der zweiten Epoche steht jeweils der Übergang in ein glorreiches neues Zeitalter, dem damals schon so genannten „Dritten Reich“, welches die Erfüllung, die Höhe und das letztendliche Ziel der Geschichte beinhalte. Jeder findet in dieser dritten Phase, was er finden wolle: die Herrschaft der Vernunft, der Humanität, das Glück der meisten, die wirtschaftliche Evolution, die Aufklärung, die Freiheit der Völker, die Unterwerfung der Natur, den Weltfrieden usw. Wer auch immer etwas sucht, der wird es mit diesem spekulativen Schema in Einklang bringen können. Klar bedeutet das für den jeweiligen Denker und Geschichtsphilosophen auch, dass die übrigen Menschen kaum etwas begriffen hätten. Bis jetzt hätten sie im Dunkel vegetiert, bis sie nun wahrnehmen sollten, worauf das Ziel der Geschichte eigentlich hinauslaufe. Über Jahrtausende hätten also die Menschen gehandelt, ohne zu wissen, was sie wirklich wollten. Gegen eine solche selbstzentrierte Ideologisierung, die stets in eine teleologische Lesung (im Sinne von griech. telos: Ziel) der Geschichte münde, wendet sich Spengler zu Recht. Kein linearer Aufstieg, keine geradlinige Evolution, welche die Leistungen anderer Kulturen nur zu primitiven Vorläufern degradieren würden!


Eine Sonderstellung Europas lehnt Spengler ab. Europa ist nicht das Zentrum, um das sich in aller Bescheidenheit die fremden Kulturen wie ein Planetensystem drehten, um damit erst ihren Sinn zu erhalten. Resultat sei die verzerrte Perspektive, welche die Geschichte von Jahrtausenden in China und Ägypten zusammenschrumpfen lasse, um sie unter der Epochenbezeichnung „Antike“ zu subsumieren.

Wie üblich bei groß angelegten Projekten dieser Art bedient sich auch Spengler des Begriffspaars „kopernikanisches“ versus „vorkopernikanisches (ptolemäisches)“ System. So wie Kopernikus eine
Wende in der Betrachtung des Himmels eingeleitet und die Erde aus ihrem Zentrum katapultiert habe, so strebt auch Spengler ein neues System an, in dem die einzelnen Kulturen wie unabhängige Organismen wesensmäßig voneinander getrennt nebeneinander stünden. Für den Beginn des 20.
Jahrhunderts ist es sicherlich beachtlich, solcherart mit dem Eurozentrismus aufzuräumen. Weniger erstaunlich ist es, wenn dies genau nach dem Zusammenbruch im 1. Weltkrieg geschieht; zu einer Zeit, als sich revolutionäre Umbrüche in allen Lebensbereichen und Wissenschaften ihren Weg bahnten.

Geschichte als Organismus

Spengler vergleicht die Entwicklung der Kulturen mit der einer Pflanze. Der Anziehungskraft dieses Vergleiches kann man nur allzu leicht erliegen. Bei einer 1000-jährigen Eiche, so Spengler, würde niemand vermuten, dass sie jetzt erst mit dem Lauf ihrer Entwicklung begonnen habe. Ebenso erwarte niemand von einer Raupe, dass sie ein paar Jahre fortfahren würde, so weiter zu wachsen. Jeder geht von einer klaren Grenze dieser Wachstumsfähigkeit aus. Doch bei der Geschichte des Menschen, lege man einen zügellosen Optimismus, der durch nichts zu rechtfertigen sei, an den Tag. Genau diese Vorstellung schrankenloser Möglichkeiten sei zurückzuweisen: „Aber ‚die Menschheit‘ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat.“ (Spengler: Untergang, S. 28)

Doch woher rührt überhaupt die Plausibilität dieses Vergleichs? Was bringt uns dazu, den Menschen mit einer Pflanze zu vergleichen und damit das besondere und großartige, aus dem Rahmen fallende Wesen Mensch zu verleugnen? Ganz ohne Vergleiche, ohne Metaphorik scheint es offensichtlich bei der Betrachtung von Fakten nicht zu gehen. Der Mensch als das per se „metaphorische Wesen“, so könnte man sagen. Biologische Vergleiche des Menschen mit der Tier-oder Pflanzenwelt haben zweifellos ihre Faszination und können auf eine lange Denktradition zurückblicken; doch mehr als lediglich poetische Intuition ist dahinter oft nicht auszumachen.

„Allgemeingültigkeit ist der Fehlschluss von sich auf andere“

Offensichtlich wendet sich Spengler mit seiner Theorie dezidiert gegen den Marxismus. Eines der Probleme der marxistischen Geschichtsdeutung blieb stets, dass die behaupteten früheren Entwicklungsstufen letztendlich in sich sinnlos wären. Der Mensch in der Sklavenhaltergesellschaft, der Feudalgesellschaft und dem Kapitalismus – er leidet und muss leiden, weil sich der Sozialismus noch nicht verwirklicht habe. Ein äußerst trübes Bild auf Geschichte. Spengler findet den Sinn im Leben jeder einzelnen Kultur – so man überhaupt von Sinn sprechen kann: „Jede Kultur hat ihre neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, die erscheinen, reifen, verwelken und nie wiederkehren. (…) Diese Kulturen, Lebewesen höchsten Ranges, wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Feld (S. 29).“ Die Weltgeschichte als Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung eines wunderbaren Werdens.

Der Untergang des Abendlandes – oder doch nicht?

Wie oben angedeutet, glaubt Spengler für die abendländische Kultur das Endstadium erkannt zu haben, denn nach 1000 Jahren vergehe ein Organismus unweigerlich. Dazu zieht er einen Vergleich mit der Antike heran. Was dort der Übergang von der hellenistischen Zeit in die Römerzeit war, ist in der Neuzeit der 1. Weltkrieg. Nach den Griechen kamen die Römer: für Spengler waren diese zwar „ungenial“, aber von praktischer Gesinnung. Damit gibt er eine in Deutschland rund um den 1. Weltkrieg verbreitete Grundstimmung wieder: Die Kulturnation habe ausgedient und der Übergangzur technisch durchdrungenen Zivilisation, wo in erster Linie Nutzendenken und Materialismus im Vordergrund stünden, sei nicht mehr aufzuhalten. Zivilisation sei das unausweichliche Schicksal der Kultur.

Kritisch mag hier eingewandt werden, dass mit Verallgemeinerungen dieser Art die Geschichte von Jahrtausenden erneut in wenigen Schlagwörtern zusammengefasst wird. Feinheiten werden ausgeblendet, um alles in die Schublade bestimmter Entwicklungsstufen zu pressen. Der Großstadtbewohner der modernen Zivilisation erscheint als Angehöriger einer traditionslosen Masse, als Tatsachenmensch, zu religiösen Erregungen unfähig, intelligent, jedoch „unfruchtbar“, so Spengler. Der Schritt zum Anorganischen und zum Ende kündige sich damit an. Die Pflanze habe ihren Lebenszyklus beendet. Gewagte Vergleiche sollen hier für Plausibilität sorgen: Früher waren es Syrakus, Athen, Alexandria und auf diese folgte Rom als Symbol der Zivilisation und des Niedergangs. Auf das Abendland bezogen bedeutet diese Parallelisierung: Madrid, Paris und London seien durch die Verkörperungen der Zivilisation Berlin und New York abgelöst worden.

So sehr sich Spengler von der Frage nach einem Sinn der Gesamtgeschichte verabschieden will, so klar erscheint der fixe Gedanke, letztendlich dem ganzen schier endlosen Strom der geschichtlichen Ereignisse seine persönliche Deutung überzustülpen. Ziel seiner Methode sei es, die Zukunft zu durchschauen. Früher habe man irgendetwas von der Zukunft erhofft und nach Gefühl entschieden, jetzt würde man erkennen können, was unabänderlich als Schicksal auf den Menschen zukomme.

Die Frage ist, wie bei einem solchen Determinismus überhaupt Entwicklung denkbar sein kann. Spengler konstatiert kategorisch, dass man sich in der (negativ konnotierten Phase der) Zivilisation befinde. Eine große Malerei und Musik könne es daher in Westeuropa nicht mehr geben. Wirklichkeit wird somit zementiert. Der „Hohepriester der Geschichtsschreibung“ ist auch hier wieder der einzige, der den Menschen erleuchten und leiten kann. Wer sich also heute noch etwas von Lyrik und Kunst erhoffe, sei in einer Sackgasse. Er solle sich mit Welteroberung und Politik beschäftigen, statt mit Philosophie. Bleibt kritisch zu fragen, warum Spengler dann ein Buch über Geschichtsphilosophie schreibt!

Spätestens hier dürfte auch klar geworden sein, wie sehr der Titel „Der Untergang des Abendlandes“ trügt. Von einem Untergang ist (noch) nicht die Rede, sondern von einem Übergang in eine neue Phase, die nur durch energisches Handeln – nach den Vorgaben Spenglers – zu meistern sei.

Bildnachweis: https://brewminate.com/wp-content/uploads/2017/01/DestructionEmpire01.jpg

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About Author

Studium der Übersetzungswissenschaft, Islamkunde, Soziologie und allgemeinen Religionswissenschaft.

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