Sayyid Qutb’s Buch „Meilensteine“ und seine Rezeption in der Türkei

0

Autor: Sinan Ertuğrul

Nach dem elften September hat in den USA der Film „Ausnahmezustand“ und der Koran gleichzeitig ihre Blütezeit erlebt. Der Schock vom elften September hat bei der Bevölkerung eine Neugier gegenüber dem Islam erweckt. 2004 hat der Fernsehsender BBC einen Dokumentarfilm unter dem Namen „Power of Nightmare“ gedreht, worin Sayyid Qutb erstmals als ideologischer Begründer des politischen Islams erwähnt wurde, wobei neben Sayyid Qutb auch Leo Strauß als sein Kontrahent analysiert wurde. Unter anderem hat mich diese neue Hochkonjunktur des Interesses an Sayyid Qutb inspiriert, die Rezeption von Sayyid Qutb in der Türkei zu analysieren. Dabei konzentrierte ich mich nur auf zwei periodisch erscheinende Titel: die monatlich erscheinende Zeitschrift „Altinoluk“, die auf den Ideen der Muslimbruderschaft gründet, und die links-kritische Tageszeitung „Radikal“ – damit waren die beiden wichtigen politischen Pole in meiner Analyse mit einbezogen.

Wer ist Sayyid Qutb?
Sayyid Qutb wurde 1906 in Ägypten geboren. Er besuchte am Anfang eine staatliche Schule und ging danach nach Kairo und besuchte dort das „Dar al-Ulum“ (das Haus der islamischen Wissenschaft), wobei diese Hochschule im Vergleich zu seiner gegenwärtigen Konkurrenz „Al Azhar“ als modern orientiert gelten kann. Sayyid Qutb studierte dort Pädagogik. Nach dem Abschluss fing er an am „Dar al-Ulum“ zu unterrichten. Sayyid Qutb beschäftigte sich zu Beginn mit Literatur und Literaturkritik. 1949 reiste er in die USA, kehrte aber zwei Jahre später zurück nach Ägypten. Unmittelbar danach trat er der Muslimbruderschaft bei. Im Jahre 1954, nach einem vereitelten Attentat an Gamal Abdel Nasser, wurden er und andere Anhänger der Muslimbruderschaft verhaftet, worauf er 1955 zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde. Im Gefängnis schrieb er seine Werke, unter anderem: Fi zilal al-Qur’an (Im Schatten des Koran) und Maalim fi-t-tariq (Zeichen auf dem Weg). 1964 wurde Qutb für eine kurze Zeit aus der Haft entlassen, aber bald darauf wieder festgenommen und zum Tode verurteilt. 1966 wurde er exekutiert.

Die Rezeption
Sayyid Qutb und vor allem sein Buch „Meilensteine“ wurden aus politischer, philosophischer und theologischer Sicht öfters rezipiert. Ich werde hier alle drei Perspektiven einbeziehen. Die erste Schrift Sayyid Qutbs erschien im türkischsprachigen Raum erstmals 1958 in der monatlichen Zeitschrift „Hilal“, welche von Salih Özcan herausgegeben wurde. Dieser gehörte selbst der Gülen-Bewegung an. Seine Übersetzungstätigkeiten begründet Salih Özcan in einem Interview in der Zeitschrift „Altinoluk“ damit, dass die 1958 gegründeten Imam-Hatip-Schulen den Schülern keine ausreichende Lektüre anbieten konnten und aus diesem Grund habe man Bücher von Sayyid Qutb, Abul Hassan an-Nadwi, Hassan el-Benna, Abul Ala Maududi, Meryem Cemile, Yusuf el-Qaradawi, Muhammad Qutb und Said Havva ins Türkische übertragen.

Im Jahr 1966 widmete sich die Zeitschrift in ihrer 58. Ausgabe dem speziellen Thema Sayyid Qutb, die jedoch nach seiner Hinrichtung erschien. Sayyid Qutb wurde als Widerstandskämpfer, Gamal Abdel Nasser als Unterdrücker geschildert und die ganze muslimische Welt wurde aufgerufen, Proteste gegen letzteren zu organisieren. Danach wurden alle Bücher Sayyid Qutbs im neu gegründeten Hilal Verlag aufgelegt.

In „Altinoluk“ erschien ein Bericht über Sayyid Qutb und sein Lebenslauf wurde stichwortartig wiedergegeben. Auch sein Widerstand gegen das ägyptische Regime wurde thematisiert, wobei zwei Zitate von ihm besonders pathetisch waren:

„Wenn ich durch Gottes Gesetze beschuldigt werde, akzeptiere ich den Willen Gottes, aber wenn ich von irdischen, menschlichen Gesetzen beschuldigt werde aufgrund meiner höheren, göttlichen Gedanken, werde ich vor Heuchlern keine Gnade suchen.“

„Denker können nur dann ewig leben; wenn sie für ihre Gedanken sterben, weil ihre Gedanken von ihrem Blut und Fleisch genährt werden. Deshalb sollten sie nur dann schreiben, wenn sie absolut überzeugt von der Wahrheit sind.“

„Altinoluk“ veröffentlichte zudem den Artikel Hareket ve Metod („Aktion und Methode“) worin die bestmögliche umsetzbare islamische Methode analysiert wurde. Diese beruhte auf Sayyid Qutubs Leben und seinem Werk „Meilensteine“.

Der Verfasser schreibt, Sayyid Qutb sei der Meinung, dass eine kontinuierliche islamische Aktion nur durch Bildung möglich sein könne. Alle äußerlichen Einflüsse, Gewalt gegen Muslime oder offene Verhinderungen, sollten mit der Bildung einer aktiven Handlung verhindert werden. Das primäre Ziel des Islams sei nicht die Gründung eines islamischen Staats, sondern das Lehren des reinen Koran. Purer Aktionismus sei nicht die Lösung. Der Muslim solle sich seine eigene Koranbildung aneignen und einzelne Menschen dazu bewegen, den Islam zu verstehen, weil eine Gesellschaft ohne den Islam wieder zum Dschahiliyya-Denken zurückkehren würde – also zum vorislamischen Denken, das aus islamischer Sicht in der Unwissenheit (Dschahiliyya) sich vollzog.

Desweiteren wurde Sayyid Qutb auch in einem Essay über Dar al-Islam und Dar al-Harb erwähnt. Hierin wird ein Land als Dar al-Islam (Gebiet des Islam) definiert, wenn es in seiner Geschichte – wenn auch nur für kurze Zeit – unter islamischen Gesetzen regiert wurde. Also würde Spanien nach dieser Auffassung als Dar al-Islam gelten, jedoch sollen Muslime trotzdem die Aufgabe haben, dieses Land wieder „unter die Herrschaft des Islam“ zu stellen. Was Dar al-Harb (Gebiet des Krieges) ist, definiert Ramadan al-Buti anhand von zwei Begriffen; eigentlich ist die Gegenbezeichnung von Dar al-Islam Dar al-Kufr (Gebiet des Unglaubens) und dieser wurde anhand von zwei Unterbegriffen definiert: Dar al-Harb und Dar al-Aman (Gebiet der garantierten Sicherheit). Nach Al-Buti sind die Definitionen von Sayyid Qutb nicht akzeptierbar, da nach Qutbs Auffassung alle muslimischen Länder Dar al-Harb wären. Außerdem fügt er hinzu, dass die Definitionen Qutbs von religiösem Eifer dominiert und nicht theologisch begründet seien. Alle islamischen Länder mit der Dschahiliyya (Zeit der Unwissenheit vor dem Islam) gleichzusetzen, sei eine falsche Annahme. Laut dieser Annahme sollte in keinem islamischen Land das Freitagsgebet gehalten werden, weil dieses nach den Definitionen Sayyid Qutbs kein Dar al-Islam sei.

In einer weiteren Kolumne wurde der „richtige“ Islam thematisiert. Hierin wurden alle unterschiedlichen Formen des Islamverständnisses in der muslimischen Welt erörtert. In verschiedenen Teilen der Welt existieren gänzlich andere Richtungen und Praktiken des Islam. Im indischen Subkontinent kam beispielsweise unter englischer Kolonialherrschaft, so auch Maududi, der politische Islam ins Spiel, weil dort das Hauptziel der Religion die Befreiung gewesen wäre. Das gilt auch für Nordafrika, insbesondere auch für das von englischen und französischen Kolonialmächten besetzte Ägypten. Qutb und andere Gelehrte entwarfen einen politisch orientierten Islam, jedoch ist dieses islamische Weltbild nicht absolut und statisch geblieben, sondern war und ist immer vom Kontext bestimmt gewesen.

In der Zeitung „Radikal“ veröffentlichte der Journalist Amir Tahir ein Artikel mit dem Titel: Bin Ladin de siyaseti de öldü („Sowohl Bin Laden als auch seine Politik sind tot“) publiziert. Eigentlich war diese Kolumne am 12. Juli 2002 im Pariser „Politique International“ bereits erschienen, aber die „Radikal“ hat diese auch zitiert. Amir Tahir schreibt in seinem Text über die Ereignisse des 11. Septembers und seine Folgen. Seine Kritik reicht bis zu islamischen Denkern und Gelehrten in den verschlafenen Teilen dieser Welt. Da er sich normalerweise nicht mit dem Islam beschäftigt, ermöglichen ihm die Interpretationen von Maududi und Sayyid Qutb einen Zugang zur Thematik; er kritisiert z.B. Sayyid Qutb damit, dass er eigentlich keine religiöse oder islamische Ausbildung hatte. Er bezeichnet die Linie Maududis und Qutbs im wesentlichen als faschistische Ideologien, die mit islamischem Deckmantel repräsentiert würden, ohne über einen philosophischen und theologischen Hintergrund zu verfügen.

Mehmet Akif Beki schrieb in seiner Kolumne unter dem Titel: Değişim bir günde olmadı („Der Wandel geschah nicht an einem Tag“) und erörterte in ihr die Geschichte die türkisch-islamischen Intellektuellen. Während Sayyid Qutb und Ali Seriati in ihren Ländern verboten waren, wurden sie zur selben Zeit in der Türkei eifrig gelesen und rezipiert. Auch heute ist der aktuelle Star unter türkisch islamischen Intellektuellen nicht etwa türkischer Herkunft, sondern wiederum ein Iraner: Abdolkarim Soroush. In den 60er und 70er Jahren waren Maududi, Hasan el-Benna und Sayyid Qutb die meist gelesenen Autoren; in den 80er wurden es Ali Schariati, Imam Khomeini und Mutahhari, wobei ab den 90er Jahren letztendlich auch Ali Schariati an Aktualität verlor. Die Gegenwart ist die Zeit des Abdolkarim Soroush. Dieser bezeichnet den Gelehrten Said Nursi als Realisten und Maududi, Qutb und Schariati als Idealisten.

Uygar Aktan schrieb im „Radikal“ einen Aufsatz mit dem Titel: İdeoloji, teoloji ve devlet („Ideologie, Theologie und Staat“). Hierin diskutiert er kritisch die Auffassungen einiger islamischer Gelehrter. Sayyid Qutbs Werk „Meilensteine“ bezeichnet er als Manifest des politischen Islam. Das Problem in einem nach islamischen Gesetzen geregeltem Land zu leben ist, so Aktan, dass eine Ulama– und eine Mudschtahid-Klasse (Gelehrtenstand) vorhanden sein muss, die die islamischen Gesetze nach dem Koran interpretieren sollten. Da aber dieses wieder vom Menschen geschaffen sein muss, kann es nur wieder Dschahiliyya selbst sein. Mustafa Akyol erörtert in seiner Kolumne über Modernität und Islam zwei Begriffe. Für Akyol ist der Islamismus eine Reaktion. Diese These begründet Akyol mit zwei Argumenten: Erstens ist der Durchbruch des Kemalismus, welcher die neu gegründete Republik von seiner Vergangenheit, also dem osmanischem Erbe, entfernt, entscheidend. Von den Befürwortern der Moderne im osmanischen Reich galten viele als sowohl islamisch als auch modern. Darunter berühmte Namen wie Namık Kemal, Cevdet Paşa, İzmirli İsmail Hakkı, Mansurizade Mehmet Sait, Mehmed Akif und sogar Ziya Gökalp. Weil diese Verbindung mit der eigenen Geschichte gebrochen war, hat sich das islamisch intellektuelle Denken nicht weiter entwickeln können. Das zweite Argument betont die vom frühen Ein-Parteien-System ausgeübte Unterdrückung, die viele religiöse Praktiken einfach verboten hatte. Dieser Bruch mit der eigenen Kultur und Geschichte hat die türkischen Muslime gezwungen, andere islamische Gelehrte zu lesen und zu rezipieren (also u.a. Maududi, Qutb, Schariati). Bezeichnend ist, dass der erste Versuch, ein Mehr-Parteien-System zu gründen, mit dem Verdacht auf anti-laizistische Bestrebungen verhindert wurde. Nach 1946 entstand eine mehr oder weniger erzwungene Demokratie. An die Macht kam eine liberale, aber auch den Islam respektierende Partei. Nach 10 Jahren wurde aber auch diese Partei mit dem gleichen Verdacht auf anti-laizistische Bestrebungen geputscht und entmachtet. Und nach Akyol begannen alle diese Entwicklungen eigentlich nach diesem Punkt: die Radikalisierung des Islams in der Türkei ist für ihn dann eine Reproduktion des Kemalismus.


1 Altinoluk, Fatih Ugurlu, 1986 – September ,Ausgabe:8 , S 40
2 Altinoluk, Yasin Dogan, 1986 – August ,Ausgabe:6 , S 43
3 Altinoluk, Dr. Sedat Cereci , 1990 – Januar ,Ausgabe:47 , S 35
4 Altinoluk, S. Ramazan El Buti Prof. Dr. 1993 – Juni, Ausgabe:86 , S 20
5 Altinoluk , Ethem Cebecioğlu Doç. Dr. , 1997 – März ,Ausgabe:133 ,
S 10
6 Radikal, Amir Tahir, 20.Juni.2002,
7 Radikal, Mehmet Akif Beki, 18.Januar.2003
8 Radikal, Uygar Aktan, 12.November.2004
9 Radikal, Mustafa Akyol, 31.juli.2007

TEILEN

About Author

Politikwissenschaftler, lebt und arbeitet in Wien

Schreiben Sie einen Kommentar

3 × zwei =

Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.