In seinem Werk „Die alidische Schi‘ah und die safawidische Schi’ah“ (Tashayyo-e- alawi wa tashayyo-e safawi) erstellt Ali Schariati eine Typologie von zwei Ausformungen der Schi’ah, die er für seine Revolutionierung der Religion im iranischen Kontext nutzbar machen will. Was war diese sogenannte safawidische Schi‘ah und welche Argumente lieferte sie, um ihre Herrschaft zu legitimieren? Im Folgenden wird der Einfluss der safawidischen Gelehrten auf die iranische Gesellschaft beschrieben und es soll veranschaulicht werden, was Schariati unter der tatsächlichen „alidischen Schi’ah“ versteht. Wichtig zu bedenken ist, dass es sich bei den so kritisierten Gelehrten nicht ausschließlich um die aus der Geschichte bekannte Dynastie der Safawiden (1501-1722) handelt. Der Begriff „safawidische Schi’ah“ dient eher als Sinnbild für eine bestimmte Ausformung der schiitischen Lehre, wie sie häufig propagiert wurde.
Die Zwölfer-Schi’ah safawidischer Prägung
Nach Schariati stützt sich die safawidische Schi’ah auf zwei Säulen: Zum einen auf die schiitische Glaubenslehre und zum anderen auf den iranischen Nationalismus.
Ein erstes Aufblühen des iranischen Nationalismus erfolgte bereits gegen Ende der Umayyaden-Dynastie (661-750) und zu Beginn der Abbasiden (ab 750). Dadurch, dass die Umayyaden das Arabertum verstärkt in den Vordergrund rückten und somit die Perser diskreditierten, entstand eine Gegenbewegung, bekannt als „Schu’ubiyyah“, welche den iranischen Nationalismus hervorbrachte. Zu Beginn stand diese „Schu’ubiyyah“ noch für die Forderung nach Ebenbürtigkeit von Arabern und Nicht-Arabern. Mit der Zeit propagierten sie jedoch zunehmend eine Überlegenheit der nicht-arabischen Perser gegenüber den herrschenden Arabern. Die Schu’ubiyyah-Bewegung konnte sich trotz der Betonung des iranischen Nationalismus nicht durchsetzen, da sie nicht adäquat auf die Bedürfnisse der Bevölkerung reagieren konnte.
Die späteren Safawiden verstanden es nach Schariati eher, auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen und entwickelten eine Schi’ah, die sich rassistischer Elemente bediente, gestützt auf gefälschte Überlieferungen, zur Legitimation ihrer Herrschaft.
In diesem Zusammenhang zitiert Schariati eine verbreitete Geschichte aus dem schiitischen Hadith-Werk Bihar-ul Anwar. Diese besagt, dass Schahrbanu, die Tochter des Sassaniden-Königs Yazdegard III., in der Regierungszeit von ‘Umar Ibn al-Chattab als Sklavin nach Medina gekommen und von Hussain (dem Enkelsohn des Propheten) geheiratet worden sei. Schariati weist auf einige Widersprüche und Unstimmigkeiten dieser Geschichte hin:
- ‘Umar Ibn al-Chattab wollte angeblich Schahrbanu, die nach der Eroberung von Mada’in versklavt worden war, hinrichten. Ali Ibn Abi Talib habe sie jedoch gerettet. Nach Schariati solle damit suggeriert werden, Ali hätte Sympathien gegenüber den durch ‘Umar besiegten Sassaniden.
- Hussain, der Enkel des Propheten, heiratete im Jahre 18 nach der Hidschrah Schahrbanu, im Alter von 15 Jahren. Imam Saddschaad (Zainu l-‘Abidin) wäre demnach im Jahre 38 nach der Hidschrah auf die Welt bekommen, also erst 20 Jahre nach der Heirat, was anderen Daten widerspricht.
- Im weiteren Verlauf der Überlieferung wird ein Dialog zwischen Ali Ibn Abi Talib und Schahrbanu angeführt. Ali spricht mit ihr auf Persisch (genauer im damaligen Pahlawi / Mittelpersisch) und sie antwortet auf Arabisch.
Ein Grund, warum solche Überlieferungen für die Begründung einer Herrschaft von Bedeutung waren, ist, dass die bereits untergegangenen Sassaniden in gewisser Weise durch die Eheschließung des Enkelsohns des Propheten mit der Tochter des letzten Sassanidenherrschers ihren Fortbestand gesichert hätten und damit deren sogenannte „heilige Wesenseigenschaften“ in den 12 Imamen weiterexistierten. Herrschaft und religiöse Vorstellungen würden somit auf einem Amalgam aus Nationalismus und Elementen vorislamischer Religion aufgebaut.
Die Rolle der „Geistlichen“
In der Frühphase, als es sich bei der Schi’ah noch um eine Protestbewegung handelte, hatten ihre Anhänger große Schwierigkeiten, bestimmte – nach der schiitischen Lehre bedeutsame – Orte, wie z.B. Karbala im Irak, zu besuchen. Nicht selten war solch ein Unterfangen mit schwerwiegenden Konsequenzen und Verfolgung bis hin zu Folter verbunden. Selbst das Besuchen der Gräber der Imame sei nach Schariatis Aussage jahrhundertelang nicht möglich gewesen. Nach der Entwicklung der Schi’ah von einer Bewegung zu einer Institution, die nunmehr eine Funktion im Staatsapparat einnahm, veränderte sich auch die Rolle der Gelehrten in dieser Gesellschaft. Während sie vorher noch in Opposition zu den Herrschern stand, begannen sie nun, mit den Herrschern zu kooperieren. Auf der anderen Seite benutzten auch die Herrscher die Gelehrten, um ihre Macht zu legitimieren.
Kirchenartige Strukturen und Verzerrung theologischer Begriffe
Nach Schariati entwickelte die safawidische Schi‘ah einen kirchenartigen Klerus. Ihre Funktionen bestanden nunmehr darin:
- das Schiitentum zu schützen, zu verbreiten und unter der Bevölkerung für das eigene Regime eine Stütze zu bilden,
- die iranischen Muslime vom Rest der islamischen Welt zu spalten und zwischen den beiden Lagern Schi’ah und Ahlu s-Sunnah Hass zu säen und
- das wahre, alidische, Schiitentum zu verzerren.
Verzerrung bedeutet, dass die für die Schi’ah typischen Themen weiterexistieren, jedoch inhaltlich so präsentiert wurden, dass sie den revolutionären Geist in Schach hielten. Beispielsweise sollte Ali Ibn Abi Talib zwar als Name stets präsent sein, jedoch nicht in seinem vorbildlichen Einstehen für Gerechtigkeit und Freiheit. Karbala sollte als Begriff Verwendung finden, gleichzeitig jedoch nicht aufrütteln und keine Schwierigkeiten für das herrschende System hervorbringen. Das Imamat sollte gepredigt werden, jedoch als Mittel, um Hass zwischen Persern, Türken und Arabern zu fördern.
Die safawidische Geistlichkeit: Eine eigene Kaste
Die „Geistlichen“ der safawidischen Schi‘ah bilden nach Schariati eine eigene Kaste, welche die Unwissenheit der Bevölkerung noch zusätzlich förderte. Selbst bei einer schwerwiegenden Sünde wie dem Zinsgeschäft hätten die safawidischen Gelehrten nicht davor zurückgeschreckt, dies zu legitimieren.
Nach Schariati kann der Islam keine Stütze und keinen Ausgangspunkt für Aristokratie oder Nationalismus bilden. Der Islam fördere Freiheit, Verantwortung und Aufklärung des Menschen und gemeinschaftliches Denken. Die safawidischen Gelehrten propagierten jedoch eine mystifizierte Form des Islam, welche das Individuum von weltlichen Angelegenheiten fernhalten solle. Der Einzelne sollte kein Interesse daran haben, sich mit den Angelegenheiten der Gesellschaft zu beschäftigen.
Die safawidischen Geistlichen stellen die Imame der Schi’ah verzerrt dar. Zum einen bekommen die Imame eine mythologische Färbung, die sie praktisch in die Nähe eines „Gottes neben Gott“ rückten, um gottähnliche Funktionen ausführen. Zum anderen werden sie als direkte oder indirekte Unterstützer und als loyal gegenüber den damaligen Herrschern dargestellt, da sie selbst für diese Herrscher gebetet und auch finanziell unterstützt hätten. Die Imame werden in ihrer Zurückgezogenheit als ängstlich und selbstzentriert beschrieben.
Nach dem Verständnis von Schariati müssten die Imame als revolutionär und systemkritisch verstanden werden: Sie traten für Gerechtigkeit ein, hätten sich stets gegen Unterdrückung gewandt und gegen aristokratische Strukturen zur Wehr gesetzt. In der alidischen Schi’ah nach Schariati ist der Imam der Nachfolger und nach dem Propheten Muhammad (Friede sei auf Ihm) der Gottesfürchtigste und damit jemand, der die Ummah anzuführen im Stande sei. Besonders auffallend ist für Schariati, dass die safawidische Schi‘ah gebetsmühlenartig praktisch immer und überall von den Wundertaten der Imame berichte, aber wenig bis gar nichts über ihr Leben, ihre Aussagen und Handlungen bekannt mache. Das Martyrium Imam Dschawads, des 9. Imams, würde zwar jährlich zelebriert, doch über seine Mission erscheine dabei nichts, noch würde darüber gesprochen, was er getan habe, um getötet zu werden. Der Imam solle in einer Weise verehrt werden, dass er praktisch angebetet werde, ohne gekannt zu werden. Die safawidische Schi’ah habe kein Interesse an aufgeklärten Menschen, da diese für sie eine Gefahr darstellten.
Interessant ist, dass Schariati in der Einleitung zu seinem Buch „Fatima ist Fatima“ anmerkt, dass (seinerzeit) kaum Dokumente und Forschungen in persischer Sprache aufzufinden gewesen seien und er selbst sich in seiner Arbeit auf die Ergebnisse der europäischen Orientalisten hätte stützen müssen.
Die alidische Schi’ah nach Ali Schariati
Schariati versteht die alidische Schi’ah nicht als Gruppierung innerhalb des Islams, sondern als den wahren Islam selbst. Dieser beruhe auf ‘Adaalaah (Gerechtigkeit) und Imamaat. Die Begriffe spielen in der schiitischen Lehre eine zentrale Rolle, werden aber von Schariati im Sinne einer neuen Gesellschaftsauffassung verstanden:
Imaamaat
In der alidischen Schi‘ah handele es sich beim Imamaat um eine revolutionäre Ordnung, die eine Ummah (Gemeinschaft) bilde. Die schiitischen Imaame würden aufgrund ihrer menschlichen Qualitäten und ihrer vorbildlichen Lebensweise zu Imamen und übernehmen somit die Führung der Ummah. Diese Imaame sind nach Schariati weder unfehlbar, noch spielt ihre Abstammung eine Rolle hinsichtlich ihrer Berufung. Das Imaamaat steht dabei für eine eigene Regierungsform, die weder rein demokratisch, noch klassenmäßig ist (Schariati: „Dinler Tarihi“, S. 313-323).
‘Adaalah
‘Adaalaah formuliert die Überzeugung, dass Allah gerecht ist, dass die Welt auf Gerechtigkeit aufbaut, diese notwendig für eine gesellschaftliche Ordnung ist und dass Unterdrückung und Ungleichheit widernatürlich sind. ‘Adaalaah stellt die Grundlage einer Gesellschaft dar. Eine Gesellschaft, die sich nicht durch diese leiten lässt, irrt ab, ist vergänglich und dazu verurteilt, unterzugehen.
Die alidische Schi’ah bildet die Religion der unterdrückten Klasse innerhalb einer Gesellschaft. In ihrer Geschichte richtete sie sich stets gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Sie tritt entschieden revolutionär auf, bekämpft Klassenunterschiede und akzeptiert keine unaufgeklärte und betäubte Gesellschaft (Schariati: „Dinler Tarihi“, S. 300):
„We have to clarify that we want the Islam of Abu Zarr, not that of the royal palace; of justice and true leadership, not that of the caliphs, class stratification, and aristocratic privileges; of freedom, progress, and awareness, not that of captivity, stagnation, and silence. We want the Islam of fighters, not that of rouhani [spiritual leaders]; the Islam of the ‚Ali family, not that of the Safavi dynasty.” (Abrahamian, E, 1982, S. 470).
Die Rolle der Gelehrten in der alidischen Zwölfer-Schi‘ah
In der alidischen Schi’ah treten die Gelehrten als Aufklärer auf. Diese Rolle lässt sich besonders durch den von Schariati dargestellten Bereich des Idschtihad (der religiösen Auslegung und Meinungsfindung) feststellen. Diese Gelehrten (genauer die sogenannten Mudschtahid-Gelehrten) sind sich der sich stets verändernden Umstände bewusst und liefern durch unabhängige Meinungsfindung und wissenschaftliche Logik Antworten auf zeitgenössische Fragen.
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