Schein und Zeitlichkeit

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AUFKLÄRUNG, FUNDAMENTALISMUS UND MODERNE
Autor: Murat Batur

Fundamentalistische Aufklärung – dieses Begriffspaar scheint auf den ersten Blick einen augenfälligen Widerspruch auszudrücken. So wie man die Aufklärung gelernt hat, ist doch gerade sie es gewesen, die mit Dogmen und Aberglauben aller Art gründlich aufgeräumt hat. Dogmatismus wird doch eher im dunklen Mittelalter vermutet; jenem Zeitraum, dem das „erleuchtete“ Zeitalter der Aufklärung fast unmittelbar folgt. Dazu ist es vielleicht hilfreich, sich die englische Bezeichnung dieses Zeitalters noch einmal in Erinnerung zu rufen: Enlightenment. In diesem Sinne stellt auch das „klar“ in Aufklärung eben jenen Gegensatz zu dunkel her, womit die Metapher des „dunklen“ Mittelalters mithin selbst zu einer Schöpfung der Aufklärung wird. Der tatsächlich wichtige Gegensatz zum Mittelalter ist jedoch der Umstand, daß damit die Aufklärung bereits in ihrer Gegenwart sich ihrer selbst als einer Epoche bewußt ist.rinnerung zu rufen: Enlightenment. In diesem Sinne stellt auch das „klar“ in Aufklärung eben jenen Ge- gensatz zu dunkel her, womit die Metapher des „dunklen“ Mittelalters mithin selbst zu einer Schöpfung der Aufklä- rung wird. Der tatsächlich wichtige Gegensatz zum Mit- telalter ist jedoch der Umstand, daß damit die Aufklärung bereits in ihrer Gegenwart sich ihrer selbst als einer Epoche bewußt ist.

Zwei Jahrhunderte, zwei Texte, eine Epoche?
Schon Kant hat in seiner Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ bereits von dem Zeitalter der Aufklärung gesprochen.1 Dieser Umstand soll für Foucault in seinem (fast) identisch betitelten Artikel: „Was ist Aufklärung“2 ein wesentlicher Punkt werden.

Die beiden o.g. Artikel werden in einem Abstand von exakt 200 Jahren veröffentlicht. Eine Zeitspanne, von der man sagen kann, daß sie ausreichend ist, um eine gewisse Reflektion über die Auswirkungen einer Idee zuzulassen. Man würde annehmen, daß Foucault mit dem gleichen Titel und der Wahl des Jahres der Veröffentlichung vielleicht ein ebenso gestaltetes Unterfangen im Sinn hatte. Doch der Text hat eine ganz andere Stoßrichtung. Foucault versucht vielmehr den Fokus von den Inhalten und deren Wirkungsgeschichte auf die Motivation desAutors beim Verfassen dieses programmatischen Textes zu verschieben. Und da wird eben jene besondere Beziehung dieser Zeit zu ihrer Zeitlichkeit klar: Kant schreibt in seiner Gegenwart über seine Gegenwart als Aktualität. Das „Ereignis“ der Aufklärung bewegt Kant dazu eine neue Art der philosophischen Herangehensweise zu entwickeln. Kant führt hier zum ersten Mal eine Art des Philosophierens ein, in der es darum geht, denkend die Aktualität zu erfassen ohne sie im Fluß einer bestehenden Geschichte aufgehen zu lassen oder sie als Vorzeichen einer anderen, künftigen Geschichte zu lesen. Das „Ereignis“ der Aufklärung scheint – im Sinne von Badiou verstanden – plötzlich aufgetreten zu sein. Das nötigt Kant vielleicht gerade deshalb dazu, eine neue Art der philosophischen Herangehensweise zu versuchen: nicht mehr „eine Analytik der Wahrheit“, wie Kant sie noch in der Kritik der reinen Vernunft als philosophische Methode begründet, sondern vielmehr eine „Ontologie der Gegenwart“.3 Mit der Schaffung des letzteren Ausdrucks scheint Foucault eine Philosophie zu meinen, die es wagt, das noch nicht Ausgereifte, das Potentielle, das Unfertige zu denken.

Von der Aufklärung zur Moderne
Eben das will Foucault in Kants kurzen Text über die Aufklärung (und einem später 1798 erschienen Textstelle, die sich mit der französischen Revolution auseinandersetzt,) erkannt haben. Dieses Denken leitet die europäische Moderne ein und setzt sich in ihr fort. Um die Art dieses Denken geht es bei Foucault und nicht um deren Inhalte. In der Gegenwart im Bewußtsein ihrer Aktualität philosophieren zu können, ist etwas, das Kant eingeführt hat und das neben der Analytik der Wahrheit die eigentlich moderne philosophische Haltung ausdrückt. Allein diese Haltung ist es, die Foucault zufolge erhalten werden soll.Die Moderne ist also mit der Aufklärung eingeleitet worden. Sie stellt aber Foucault zufolge keine (oder nicht nur eine) Epoche dar. Sie ist auch nicht synonym mit dem Begriff „zeitgenössisch“ zu verstehen. Wie bereits erwähnt, bezeichnet sie vielmehr eine Haltung, eine Art sich zu verhalten, zu denken, zu fühlen. Ich teile die Meinung, daß man die Moderne nicht als Beschreibung einer historisch gewachsenen Faktizität betrachten sollte. Die Moderne beschreibt keine historische Konjunktur, in deren Endstadium wir uns vielleicht befinden würden. Es gehört aber zu der Eigenheit des Diskurses der Moderne, daß sie eine derartige Sicht befördert, um eben das Gefühl von Faktizität zu vermitteln. Die plakativ heruntergebrochene Selbstbeschreibung der Moderne macht das nocheinmal deutlich: Die Aufklärung fördert die Vernunft, die Vernunft fördert das kreative Potential der Menschen, die Menschheit schreitet fort, entwickelt sich, wird erwachsen und läßt die Naivität, das Archaische des Mittelalters hinter sich – eine Epoche entsteht. Alles das ist notwendige Konsequenz einer vernunftgeleiteten geschichtlichen Entwicklung. Alles das, was dieser Erzählung nicht entspricht, wird sich früher oder später notwendigerweise in dem Hauptstrang dieser Erzählung auflösen müssen.

Das Problem wird genau dadurch verursacht, daß die Moderne ein (nicht der Realität entsprechendes) Bewußtsein dafür geschaffen hat, daß man in einer Epoche lebt. Die Moderne erhebt so den Anspruch, die historische Gegenwart selbst oder zumindest den wesentlichen Kern davon zu beschreiben und behauptet, diese Gegenwart bilde eine geschlossene Totalität. Wenn dieses Narrativ unsere Realität zumindest in Teilen tatsächlich widerspiegelt, so ist das eher der Kraft dieser Erzählung geschuldet.

Menschheit – ein folgenreicher Begriff
Der Begriff der Menschheit bei Kant kann vielleicht zum besseren Verständnis des modernen Denkens beitragen. Foucault diskutiert in seinem Text, was Kant mit dem Begriff Menschheit meinen könnte: Ist das ganze Menschengeschlecht in die Aufklärung involviert oder ist die Menschlichkeit des Menschengeschlechts einer Veränderung unterworfen? Foucault lässt die Frage offen. Ich vermute, daß der Entwurf Kants absolute Gültigkeit beansprucht, in dem es rigide Kategorien der Universalität und Vernunft einführt – kulminiert eben in diesem Begriff der Menschheit, die nicht kulturell oder sonstwie unterschieden ist – also alle umfasst – und sich nur dadurch auszeichnet, vor allem vernunftfähig zu sein – ein wesentlicher Charakterzug des in Veränderung begriffenen neuen Menschen. Eine Sichtweise, die jeden logischen Widerspruch wie auch jedes politische Widersprechen gleichzeitig ausschließen will. In diesem Zusammenhang sollte man den Vorschlag Kants an Friedrich II. verstehen, einen Vertrag zwischen einem rationalen Despotismus und der freien Vernunft abzuschließen, wobei der Gebrauch der letzteren notwendigerweise zum Gehorsam vernünftiger, allgemein einsichtiger Gesetze führt.

Wenn wir jetzt noch einmal auf die Eingangsfrage zurückkommen, wie denn die paradox anmutende begriffliche Zusammenführung von Fundamentalismus und Aufklärung zustandekommen konnte und berücksichtigen, daß der kantische Entwurf kaum Raum für Widerspruch zulassen wollte, müssen wir folgendes feststellen: Die angesprochene Paradoxie ist nicht nur logischer Natur, sondern hat auch und vor allem Potential für ein politisches Widersprechen. Sie kehrt den kantischen Ausgangspunkt um. Der Begriff Fundamentalismus hilft vielleicht, das zu veranschaulichen.

Fundamentalismus – Eine verhängnisvolle Schöpfung
Der Fundamentalismus ist tatsächlich eine moderne Wortschöpfung. Ursprünglich war sie eine Fremdbezeichnung für eine theologische Reaktion auf die Moderne. Diese Fremdbezeichnung ging von der Moderne selbst aus, die damit einen ihrer Gegendiskurse bezeichnete. Eine zentrale Kritik der Moderne am Fundamentalismus war, daß sie an der Realität vorbei denke, daß die Entwicklungen der Wissenschaft und Technik eine Gesellschaft geschaffen hätten, die ein derartiges Weltbild notwendig ausschließen mußte. In der Kritik, die sich im Begriff Aufklärungsfundamentalismus zeigt, wird die Moderne von einem Gespenst heimgesucht, daß sie selbst geschaffen hat.

„The Descent of the Modernists“, von E. J. Pace, 1924. (cc) Wikimedia Commons

Wenn wir die Moderne nicht als historische Konjunktur und nicht nur als Haltung verstehen, und annehmen würden, es handle sich tatsächlich nur um ein Projekt, wird man es vielleicht leichter haben zu verstehen, wie so ein Wort wie Aufklärungsfundamentalismus entsteht. Talal Asad, ein Anthropologe in den USA, schlägt vor, die Moderne als eine Serie je miteinander verknüpfter Projekte zu betrachten – Säkularismus, Nationalismus, Demokratie, moralische Autonomie, etc. Diese Projekte sind nicht alle realisiert, aber in der modernen Wahrnehmung werden sie es früher oder später sein.4

Was passiert dann, wenn man mitbekommt, daß die Realität mit diesem Projekt immer weniger zu tun hat, bzw. diese Projekte tatsächlich drauf und dran sind zu scheitern? Bisher hatte man angenommen, daß die Tendenz in Richtung vollkommene Entfaltung der Vernunft in einer friedlichen Gesellschaft, Nutzung der Wissenschaft zur Förderung des Friedens und Prosperität auf der Erde, Rückgang der Religion im speziellen und aller anderen obskurantistischen Weltanschauungen im allgemeinen, etc ginge.

„Rationalism: I‘m not dead yet…“, von Watson Heston, 1905. (cc) Wikimedia Commons

Der Aufklärungsfundamentalismus entsteht wahrscheinlich genau in jenem Moment, da man unbewußt erkennt, daß die Projekte der Moderne zu Projektionen geworden sind. Man projiziert auf die tatsächlich gegebene Situation moderne Wertvorstellungen und fordert schließlich ein, daß sie geschützt werden müssen. Was die Menschen tatsächlich wollen, wie sie tatsächlich denken, scheint nachrangig zu werden. Das bedeutet natürlich keinesfalls, daß die Moderne an den Menschen und der Gesellschaft spurlos vorbeigegangen wäre. Es hat tatsächlich viele Umwälzungen gegeben, doch die Einschätzungen des modernen Denkens, was die Ursprünge und Auswirkungen dieser Umwälzungen seien, sind falsch. Deshalb verliert auch das analytische Rahmenwerk, das seit der Aufklärung den Menschen und die Gesellschaft zu verstehen und zu erklären versucht, seine hegemoniale Stellung, was wiederum fast zwangsläufig zu einem verbissenen Beharren auf die Werte der Aufklärung führen muß.


1 Immanuel Kant. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in ders.:Gesammelte Werke, Akademieausgabe, Band VIII, S. 33-42
2 Eigentlich handelt es sich hier um zwei Texte, die Foucault im gleichen Jahr veröffentlicht hat und die beide auf eine Vorlesung am College de France vom 5. Januar 1983 zurückgehen. Michel Foucault. Was ist Aufklärung, in ders.: Schriften in vier Bänden, Band IV, Suhrkamp, Frankfurt 2005, S.687-707 und 837-848. Die Vorlesung am College de France findet sich in: Michel Foucault. Die Regierung des Selbst und der Anderen. Suhrkamp, Frankfurt 2012, S.43ff
3 Foucault 2005, S. 848
4 Talal Asad. Formations Of The Secular. Christianity, Islam, Modernity.
Stanford Univ. Press., Stanford, S.12f

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Soziologe, lebt und arbeitet in Wien

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