„Sicherheit, Brot und Freiheit für alle!“

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Das Interview führte Tarkan Tek

Als einem der wichtigsten, oppositionellen Stimmen der Türkei haben wir mit Prof.Dr. Mehmet Bekaroğlu über das weltweit kontroversiell diskutierte Thema des Islamismus und die Zukunft des politischen Islam gesprochen.

Herr Bekaroglu, was verstehen Sie unter politischem Islam?

Die Begriffe „Politischer Islam“ und „Islamismus” befinden sich zwischen den meistdiskutierten des letzten Jahrhunderts, die oft zu Spekulationen geführt haben. Man muss dabei zwei Bedeutungen unterscheiden: Im allgemeinen Sinne ist der politische Islam eine Bewegung, die behauptet, dass der Islam auch gesellschaftliche und politische Ambitionen hat. Es gibt aber noch die politische Ideologie, die vom Beginn des 20. Jahrhunderts angefangen bis heute versucht, den islamischen Staat gegenüber den Aggressionen aus dem Westen zu schützen, die islamische Zivilisation neu zu errichten und die Einheit der Umma wiederherzustellen. Diese Form des Islamismus kann man als eine historisch spezifische Interpretation des politischen Islam sehen. Es ist eine defensive Ideologie, in der Muslime versuchen, gegen die Herausforderungen und Aggressionen der Moderne eine politische Haltung zu entwickeln.

Kann man also sagen, dass der politische Islam eine moderne Reaktion auf die westliche Welt ist?

Ja. Der Islamismus ist eine Reaktion auf die umfassende Aggression der westlichen Zivilisation gegen die muslimische Welt. Politisch gesehen hat sie eine Geschichte, deren intellektuelle Anfänge am Ende des 19. Jahrhunderts anzusiedeln sind. Aber als Idee reicht ihre Geschichte viel weiter zurück. Obwohl einige klassisch muslimische Gelehrte auch bei der Entwicklung des Islamismus beteiligt waren, waren es doch die im Westen ausgebildeten muslimischen Intellektuellen, die eine führende Rolle gespielt haben. Diese Entstehungszeit war geprägt von einer Atmosphäre, in der die moderne Zivilisation überall voranschritt, diese sich selbst eine moralische Überlegenheit zusprach und andere Zivilisationen ihr unterlagen und unterdrückt wurden. Die islamische Welt kam ins Wanken, der muslimische Staat (repräsentiert durch das Osmanische Reich) musste sich zurückziehen und territoriale Verluste hinnehmen – sie war besiegt. Die erste Frage, die sich muslimische Intellektuelle daraufhin stellten, war: „Wie und v. a. mit was sind wir besiegt worden?” Die Antwort darauf war, dass man sich mit den Waffen des Feindes ausstatten müsse. Das ist dann auch der Islamismus: Die Waffen des siegreichen Feindes übernehmen. Diese Waffen sind das Wissen, die Wissenschaft, die Technologie. Das macht dann auch die moderne Geschichte des Islamismus aus und das macht den Islamismus auch zu einer modernen Bewegung. Hier beginnt dann auch der eigentliche Bruch. Das moderne Wissen und die auf ihr gebaute Welt stellen selbst einen großen Bruch dar. Wenn Kant vom „reifen Menschen“ spricht, dann meint er damit, dass der Mensch seine Beziehung zum Göttlichen unterbrochen hat. Das moderne Wissen ist in einer gewissen Weise das Instrument für die Vergöttlichung des Menschen. Dieses Instrument ist in keiner Weise wertneutral. Was mit diesem Wissen und den aus ihr entwickelten Mitteln gemacht werden kann, ist begrenzt. Die Muslime haben dieses Wissen nicht etwa kritisch übernommen, sondern dachten, dass sie dieses Wissen für gänzlich andere Zwecke einsetzen könnten. Ein Beispiel: Man hat einen einfachen Computer und es erleichtert das Leben ungemein. Er teilt uns die Gebetszeiten mit, macht den Gebetsruf, zeigt uns die Gebetsrichtung – Man wird den Islam besser leben können. Ungefähr so hat man das verstanden. Aber es verhält sich doch ganz anders, diese Technologie verändert unser Leben grundsätzlich. Die Waffe des siegreichen Feindes, nach der man gegriffen hat, beginnt unser Leben zu bestimmen. Dass man den Rückstand wettmacht, scheint unmöglich zu sein – aber auch wenn man es schaffen würde, würde man nicht mehr derselbe sein.

Kann man von einem politischen Islam vor und nach 2001 sprechen?

Wenn wir von der Türkei sprechen wollen, kann man sagen, dass die Gründung der AKP 2001 und ihre Regierungszeit ab 2002 für die „islamistische Praxis” von Bedeutung waren. Aber die Islamisten sind auch schon früher in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Methoden an die Macht gekommen und hatten bereits politische Erfahrungen gemacht. In Pakistan, das seit seiner Gründung als islamischer Staat geführt wird, hatten die Islamisten mit einem Militärputsch die Macht ergriffen, im Iran schafften sie es mit einem Volksaufstand. In der Türkei kamen die Islamisten 2002 mit Wahlen an die Macht, wenn man die kurze Periode vor dem „postmodernen Putsch“ am 28. Februar 1997 nicht mitrechnet. Die Praxis des politischen Islam in der Opposition ist natürlich nicht die gleiche, wie die in der Regierung. In der Opposition ist es einfach: Man ist antiimperialistisch, man kann die westlich-orientierte Herrschaft kritisieren, man kann den Kampf gegen eine Ausschließung der Muslime aus der Öffentlichkeit führen, man ist solidarisch. Man kann ins Feld führen, dass die Menschen unzufrieden sind. Wenn man an die Macht käme, würde man alles besser machen, würde man Gerechtigkeit herstellen. Und dann kommt man an die Macht. Es vergehen Jahre und nichts ändert sich. Die Probleme der Menschen und des Landes sind noch dort, wo sie waren. Noch schlimmer, man tut das Gleiche, was andere vorher auch getan haben: Ungerechtigkeit, Vetternwirtschaft, Korruption, unrechtmäßige Bereicherung. Während früher die anderen den Staat als Mittel für Hegemonie und unrechtmäßige Verteilung zweckentfremdeten, so tut man jetzt dasselbe. Der Islamismus ist an der Macht, und es ändert sich gar nichts. Aus diesem Blickwinkel sind die 2000er Jahre für den politischen Islam in der Türkei bedeutsam geworden. Wenn man noch das Fiasko des Arabischen Frühlings hinzurechnet, ist für den politischen Islam die Zeit gekommen, alles von neuem zu hinterfragen. Dieser Prozess hat auch schon begonnen. Zusammenfassend kann man sagen: Vor den 2000er Jahren gab es ambitionierte Forderungen des politischen Islam, heute haben wir Desillusionierung und Hinterfragung.

Hat der politische Islam eine genuin politische Vision?

Mann kann von keiner „islamistischen Ideologie“ sprechen, die monolithisch wäre und in der jeder die gleichen Inhalte verstehen würde. Unter geographisch und zeitlich unterschiedlichen Umständen gibt und gab es Versuche, die islamische Zivilisation neu aufzurichten – wie bereits gesagt, sind diese Bemühungen eher defensiv ausgerichtet. Die zur Verteidigung angebrachten Inhalte machen Sinn, aber es gibt kein einheitliches politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Modell, das als Alternative für die globalisierte westliche Zivilisation gedacht werden kann. Im Gegenteil: Es gibt nur eine allgemeine Verwirrung. Natürlich gibt es Punkte, die genuin und zugleich universal sind, indem sie alle Menschen ansprechen. Die Muslime beharren beispielsweise noch immer darauf, dass Wucher und Zinsen haram, also verboten sind. Diese Forderung müsste auf jeden Fall zu einer Alternative zum herrschenden Finanzkapitalismus führen, der die Welt in immer größere Ungerechtigkeit und Armut drängt.

Man hört immer öfter, der politische Islam sei am Ende. Sie behaupten, dass der politische Islam sich erneuern könne. Wie soll das gehen?

Wie ich schon gesagt habe, es gibt verschiedene Formen des politischen Islam. Die Frage ist vielmehr: Welche davon ist am Ende und wer entscheidet darüber? Der Islamismus als eine Verteidigungshaltung, das war der politische Islam einer bestimmten Periode. Dieser Islamismus hat tatsächlich ausgedient. Der politische Islam im Allgemeinen hat aber noch immer keine Antwort auf den globalen Kapitalismus entwickelt, der die Welt mit immer mehr Problemen konfrontiert. Das heißt aber nicht, dass er am Ende sei. Die liberalen Demokratien im Westen sind am Ende, der Diskurs der Menschenrechte genauso. Das Problem der politischen Repräsentation ist nicht gelöst; die Menschen glauben nicht mehr daran, dass ihre Probleme durch Wahlen gelöst werden können. Ausländerfeindlichkeit, Diskriminierung verbreitet sich immer weiter, die europäischen faschistischen Parteien gewinnen immer weiter an Boden. Auch das kapitalistische Modell gelangt an seine Grenzen. Der Finanzkapitalismus ist in der Krise. Die Gier des Menschen kennt keine Grenzen, die natürlichen Ressourcen hingegen schon. Ausbeutung, Hunger, Armut, Kriege, Bürgerkriege und Umweltkatastrophen bedrohen die Zukunft der Menschheit. Der Sozialstaat ist schon längst am Ende, die gesellschaftliche Ungerechtigkeit erreicht ungeahnte Ausmaße. Hinter all dem steckt ein globales Großkapital, das es an die Macht geschafft hat und die Welt als ihr Eigentum betrachtet. Lassen wir einmal beiseite, was die Islamisten tun. Es gibt diesseits davon eine Religion, die sagt, dass aller Reichtum der Welt Gott allein gehört und dass die Gaben Gottes allen Geschöpfen gemeinsam gebühren. Es gibt eine Religion, die sagt, dass die Menschen ihre Angelegenheiten in Beratung miteinander lösen sollen, dass kein Mensch über einem anderen stehe. Diese Religion, der Islam, hat natürlich politische Ambitionen. Ja, es ist die Zeit gekommen, aus diesen Grundprinzipien Inhalte zu machen, die allen Menschen zugänglich sind. Wie soll regiert werden, wie repräsentiert, was sind die Rechte und Freiheiten der Menschen, was sind die Möglichkeiten eines friedlichen Zusammenlebens? Diese Fragen bedürfen einer Antwort. Eine politische und wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft, in der die Menschen gleich sind, in der Wucher verboten ist und in der die Gerechtigkeit im Vordergrund steht, ist möglich.

Wo sehen Sie die Unzulänglichkeiten des politischen Islam der Gegenwart?

Wir müssen die Mittel hinterfragen! Werden wir die Zivilisation des Stärkeren mit dem Adjektiv „islamisch“ neu reproduzieren oder werden wir versuchen, die Gerechtigkeit neu auf ihre Beine zu stellen? Sollen wir versuchen, um jeden Preis die Herrschaft zu erringen oder sollen wir um Gleichheit und Gerechtigkeit kämpfen? Die Antworten auf diese Fragen sind entscheidend. Die Islamisten heute versuchen an die Macht zu kommen. Sie kommen auch an die Macht. Aber aus dieser Macht resultiert meist Ungerechtigkeit. Da kann was nicht stimmen. Der wichtigste Vertreter des gegenwärtigen Postmarxismus Zizek hat dazu einmal gesagt: Der Islam unterscheidet sich von anderen Religionen insofern, dass er erfolgreich Widerstand leistet, sich in das globale kapitalistische System zu integrieren. Haben die Islamisten das nicht auch gesehen?

Natürlich gibt es viele, die das gesehen haben. Ja, der Islam leistet dem globalen kapitalistischen System Widerstand. Das globale kapitalistische System basiert auf der Herrschaft des Kapitals, dem Wucher und Zinsen. Der Islam hingegen sagt, dass alles Gott gehört und alle Geschöpfe gleiche Rechte auf dieses Eigentum Gottes haben. Es verbietet Wucher und Zins, und setzt als Grundlage die Solidarität, das Teilen und die Gerechtigkeit.

Der wichtigste Vertreter des gegenwärtigen Postmar xismus Zizek hat dazu einmal gesagt: Der Islam unter scheidet sich von anderen Religionen insofern, dass er erfolgreich Widerstand leistet, sich in das globale kapitalistische System zu integrieren. Haben die Isla misten das nicht auch gesehen?

Natürlich gibt es viele, die das gesehen haben. Ja, der Islam leistet dem globalen kapitalistischen System Widerstand. Das globale kapitalistische System basiert auf der Herrschaft des Kapitals, dem Wucher und Zinsen. Der Islam hingegen sagt, dass alles Gott gehört und alle Geschöpfe gleiche Rechte auf dieses Eigentum Gottes haben. Es verbietet Wucher und Zins, und setzt als Grundlage die Solidarität, das Teilen und die Gerechtigkeit.

Seit den 70er Jahren dominieren immer mehr Identitätspolitiken die Form, wie Politik gemacht wird. Es scheint, dass dadurch die Opposition zum immer schneller wachsenden globalen Kapitalismus an Kraft verloren hat. Ist es möglich, dass man eine antikapitalistische Opposition mit der Forderung für Gerechtigkeit aufbauen kann, ohne kulturelle Unterschiede zu verleugnen? Welche Stellung würde in so einer Konstellation der politische Islam einnehmen? Der Islam hat selbst eine oppositionelle Grundhaltung. Der Islam fordert, dass „unter Euch eine Gruppe sein soll, die Euch auf Eure Fehler hinweist“. So gesehen ist Opposition sehr wichtig.

Dann gibt es noch die Opposition zum globalen Kapitalismus, zu der Versklavung des Menschen, zu der Konzentration des Reichtums der Welt in den Händen einiger Weniger und zu der Ausbeutung der Welt. Diese Opposition ist notwendig. Meiner Meinung nach kann man auf der Basis von drei Schlagwörtern versuchen, mit allen Menschen gemeinsam zu handeln: Sicherheit für alle, Brot für alle, Freiheit für alle. Wir können und wir müssen sagen: „Lasst uns einen Gesellschaftsvertrag abschließen, in dem wir ein gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches Funktionieren gemeinsam entstehen lassen können, in dem jeder sich in Sicherheit weis, in dem jedem von den reichen Gaben Gottes der gerechte Anteil gebührt, in dem jeder Brot und Unterhalt findet und in dem jeder frei ist, seinen Glauben, seine Ideen, seine Meinung und seinen Lebensstil zu äußern und zu leben.“ Das können tatsächlich nur Muslime sagen, das müssen Muslime sagen – und das ist auch der neue politische Islam, den ich meine.


D08_SMI_T Tek Bekaroglu|   Zur Person:
Mehmet Bekaroğlu ist Psychiater, Universitätsdozent, Menschenrechtsaktivist und muslimischer Politiker. Im Jahr 2000 hat Bekaroglu internationale Berühmtheit erlangt, als er aktiv am Kampf gegen die Typ-F-Gefängnisse in der Türkei und gegen menschenunwürdige Praktiken in diesen Gefängnissen teilnahm. Der Kampf ging weiter mit Aktionen gegen die Operation „Rückkehr ins Leben“, in der der Staat den Protest der Gefängnisinsassen mit brutalen Mitteln niederzwang. Als Bekaroğlu das Oppositionsverständnis seiner eigenen Partei nicht mehr mittragen wollte, verließ er die Partei. Seine Freunde in der Partei gründeten die AKP, an der er auch nicht teilnehmen wollte und deshalb in der Opposition verblieb. 2003 gründete Bekaroğlu gemeinsam mit anderen die Plattform Doğu Konferansı („Ost-Konferenz“), in der sich Intellektuelle und Literaten aus dem Nahen Osten gegenseitig kennenlernen und einen Dialog für den Frieden aufbauen sollten. 2010 gründete er die HAS-Partei („Die Partei der Stimme des Volkes“), die sich schließlich 2012 auflöste. 2013 gründete er das Forschungszentrum Istanbul Düsünce Evi („Ideenhaus Istanbul“). Bekaroğlu hat vier Bücher und zahlreiche Artikel veröffentlicht und arbeitet als Dozent an der Istanbul Ticaret Universität.

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About Author

Tarkan Tek, MA, Studiert und lebt in Wien

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