Wer krank sein will, muss leiden

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UNSER LEBEN ZWISCHEN MEDIKALISIERUNG UND RUNNING-DIAGNOSEN
Autor: Jana Vietze

In einer Gesellschaft, die immer mehr, immer größer, immer reicher und immer besser werden möchte, gibt es keinen Platz für Dysfunktionalität. Wir definieren uns nur über unsere Leistung, an den Abschlüssen, Weiterbildungen und Auszeichnungen. Wir wünschen keine Abweichungen vom Normalzustand, da sie uns am „Plan A“ unseres Lebens hindern könnten. Das Abnormale erschreckt uns und muss so schnell wie möglich in unser Weltbild eingeordnet werden, um unserem Karriereweg nicht weiter im Weg zu stehen.

Im klinischen Bereich wird standardmäßig von Störungen und Krankheiten gesprochen, womit wir zu einem zentralen Bestandteil des westlichen Gesundheitssystems kommen: Die Pathologisierung. Sie bedeutet die Interpretation von bestimmtem Verhalten, bestimmten Gefühlen und Gedanken als krankhaft. Das hat wiederum eine Unterteilung der Gesellschaft in krank und gesund zur Folge, in normal und anormal, in richtig und falsch. Es wird nicht umsonst auch von psychischen Störungsbildern gesprochen, in Anlehnung an einen kaputten Empfang des häuslichen Fernsehgerätes. Anscheinend können die erwünschten Signale der Umwelt von einigen nicht einwandfrei empfangen oder gesendet werden. Thomas Szasz stellte 1960 die Frage, wer nun diejenigen sind, die einen perfekten Empfang haben und wer die zugrunde liegende Norm definiert und kam zu dem Schluss, dass Geisteskrankheiten per se nicht existieren und die damit verbundenen Verhaltensweisen einfach von der Norm abweichen.1 Aber auch er musste nach Veröffentlichung seiner Psychiatriekritik feststellen, dass vom-kulturell-erwünschten-Verhalten-abweichend einfach nicht so reißerisch klingt wie gestört und erfreute sich dementsprechend keiner großen Popularität. Es gibt also nur zwei Möglichkeiten: Ein ordentlicher psychischer Zustand oder ein unordentlicher psychischer Zustand. Halbschwanger gibt es ja auch nicht.

Eine Konsequenz ist, dass immer häufiger zur Selbstdiagnose geschritten wird. Einige Diagnosen finden sogar, wie das Wetter, einen Platz in der alltäglichen Konversation: Man fühlt sich nicht mehr antriebslos, sondern depressiv, nicht mehr aufgeregt, sondern hyperaktiv. Und auch unsere Smartphones kennen die Wörter Depression und Manie, ersetzen aber Happy Birthday durch Handy Bierfass, was an einer viel allgemeineren geistigen Gesundheit zweifeln lässt. Und wenn die Bekannten und Gesundheitsmagazine auch nicht helfen, dann gibt es ja immer noch den Internetdoktor. Er ist einerseits ein Segen, da die Menschen, die beispielsweise in eine psychologische Beratungsstelle kommen, ein viel umfassenderes Grundwissen über Symptomen, Krankheiten und Interventionsmaßnahmen haben. Andererseits führen die zum Großteil missverständlichen „Fakten“, die einem im weltweiten Netz vermittelt werden, zu Überempfindlichkeit und einer ausgeprägten Angst, ernsthafte körperliche Erkrankungen zu haben (Hypochondrie). Nicht jedes Sodbrennen ist ein Zeichen für fortgeschrittenen Speiseröhrenkrebs. Viele Informationen können nicht entsprechend eingeordnet oder verarbeitet werden. Der „in(ternet)formierte“ Mensch geht also nur zum Arzt, um sich seine zuvor selbst gestellte Diagnose schriftlich bestätigen zu lassen.

Die Ressourcen im Gesundheitsbereich sind zu gering für Klientenzentrierung und Prävention. Gerade bei psychischen Krankheiten ist die allgemeine Aufklärung zu gering. Geistige Störungen müssen zuerst einen Kultstatus mit Prädikat Burnout erreichen, um gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert zu werden. Da außerdem über eine psychologische Betreuung in vielen Fällen aus finanziellen Gründen hinweg gesehen wird und da auch im allgemeinmedizinischen Bereich durchschnittlich nur acht Minuten pro Patient zur Verfügung stehen, müssen immer häufiger Medikamente herhalten, um zumindest die Symptome zu behandeln, wenn auch nicht die Ursache. Der Mensch gewöhnt sich an diese Art der Problemlösung. Wenn man die Arztpraxis ohne Rezept verlässt, fühlt man sich nicht ausreichend behandelt. Die bunten Pillen werden es schon richten und das schwache Individuum wird zum Treibstoff einer stetig wachsenden Industrie. Gerade bei Kindern ist diese Entwicklung gefährlich, da sie schon früh lernen, dass es gegen Angst, Müdigkeit, Husten und Nervosität Medikamente gibt. Die Wahrscheinlichkeit, im späteren Leben zu Genuss- und Suchtmitteln als „Heilmittel“ oder „Lösung“ zu greifen, wird dadurch erhöht.

Mehr Diagnosen, mehr Medikamente, weniger Denken und man hält das Rad am Laufen. Wir widersprechen somit einem der wenigen Grundprinzipien unseres Seins und Descartes würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wie wir mit dem Geist umgehen, der uns das Denken zum Sein ermöglicht. Aus cogito ergo sum wird laboro ergo sum, ich leide. Der gemeine Homo sapiens gewöhnt sich an das ständige Wechselspiel von Krankheit und Behandlung. Die Zukunft liegt in einer Art Running-Diagnose. Wie auf einem Sushi-Band fahren die unterschiedlichsten bunten Diagnosen tagtäglich an uns vorbei und wir müssen uns nur noch eine beliebige greifen, um eine Beschäftigung für einen weiteren Lebensabschnitt zu haben. Frei nach dem Motto: “Darf‘s denn heute mal eine Winterdepression sein?“

Am Beispiel der Modekrankheit ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) lässt sich gut erkennen, wie sich unser Lebenskonzept und die hohe Wertigkeit von Leistung im Umgang mit Krankheiten widerspiegelt. Es ist gar nicht so lang her, da hätte man diese Kinder noch als Zappelphilipp bezeichnet, als Klassenclowns, wie es sie in jeder Schulklasse gab. Als feuerzangenbowl’schen Hans Pfeiffer, der mit den drei f:„eins vor dem ei und zwei hinterm ei!“. Auch in der Kinderliteratur findet man viele Protagonisten mit ähnlichem Verhalten: Hans guck


1http://www.szasz-texte.de/texte/mythos-geisteskrankheit.html [20.5.2013]

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About Author

In Berlin geboren, Studium der Psychologie und der Soziologie an der Universität Wien

Ein Kommentar

  1. Ein wunderbarer Artikel, der viel geistigen Müll elegant beiseite räumt, „against the wind“. Auch das Bild dazu sehr schön.
    Nur schade, dass er bei „Hans guck“ plötzlich abbricht, wo ist der Rest?

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