Wertegenese: Dezisionistische Ethik als letzter Ausweg?

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Autor: Kerim Edipoğlu

1. Vom Unbehagen der Werte
Heute noch über Werte zu sprechen, fällt gewiss niemandem leicht, der noch einen Fuß in der Realität hat. Mit Werten sind große Ansprüche verbunden. Zu große Ansprüche? Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde? Übernehmen wir uns nicht damit, wenn wir gleichzeitig das Gefühl haben, in einer Welt des Zynismus zu leben? Wenn wir uns in einer Welt bewegen, in der genau die „Sinnverwalter“ dieser Werte als erste bereit sind, diese für ihre eigenen Interessen hinzubiegen, bei Wertekollisionen auffällig oft, den politisch genehmeren Wert wählen, für jeden Verstoß gegen die umfassende Gültigkeit eine passende Ausrede (islamisch gesprochen, eine Hiilah Schar’iyyah – Rechtskniff) parat haben?

2. Soziologie als Kapitulation vor der Sinnfrage?
Sind Werte begründbar? Gibt es eine Quelle dieser Werte, die wie der göttliche Wahy (die Herabsendung des Qur’ans) oder die prinzipiell jedem zugängliche Vernunft, nicht hinterfragt werden kann? Handelt es sich bei Werten um nichts als sozial konstruierte Regeln und Konventionen – ohne ein Recht aus sich heraus?

Die Schwierigkeit jeder soziologischen Begründung für die Wertegenese ist der befürchtete Relativismus und die darin schlummernde Angst vor einer nihilistischen und zynischen Entwertung dieser Werte. Werte sollen Orientierung spenden. Doch sollten diese nur auf einem Funktionsmechanismus für gesellschaftliche Stabilität basieren, wie kann man dann verhindern, dass bei Bedarf die Werte ausgetauscht werden, weil sich alles als schales Wort entpuppt hat? Wenn Werte nur ein soziales System begründen sollen, was ist dann das einzelne, die Gesellschaft konstituierende Individuum, mehr als ein angepasster Rollenträger? Ein kleines Rädchen in der Produktionsmaschinerie, ohne Recht, sich die Sinnfrage des Ganzen zu stellen? Zurechtgeschnitten und zurechtgestutzt, um im Interesse anderer das System aufrechtzuerhalten? Bleibt dann als Sinn nicht nur leben, um zu konsumieren und konsumieren, um diese Dunya (Welt und Weltlichkeit in ihrer oberflächlichsten Bedeutung) am Laufen zu halten? Ethisches Verhalten, um damit größere Systemstockungen zu unterbinden?

Werden Werte rein aus den Funktionserfordernissen des menschlichen Zusammenlebens begründet, dann entsteht der Homo sociologicus (R. Dahrendorf), der bloße Rollenträger – ein ernüchterndes Menschenbild. Ziemlich dürftig, stellt man es den hehren Vorstellungen der Religionen und der idealistischen Schulen der Philosophie seit der Antike gegenüber. Dort erscheint der Mensch eingebunden in einen mit Sinn getränkten Kosmos. Um für den Islam zu reden: Eingebunden und doch durch die Verbindung zum Schöpfer diesem Kosmos nicht ausgeliefert, sondern am würdigsten Punkt dieses Kosmos stehend: Dort, wo sich die Engel vor dem Menschen verneigen und der Mensch sich vor nichts Materiellem und Geschaffenen verneigt. Wo er sich in keine falsche Abhängigkeit begibt, da er die eigene Niederwerfung nur auf seinen Schöpfer richtet.

3. Von der Engelswelt in die Enttäuschung des Zynismus
Wie ist es zu diesen gigantischen Umwälzungen im Menschenbild gekommen? Wie hat der Mensch seine Stelle in der Welt des Lichts, der Welt der Engel, aufgegeben, um sich einem solchermaßen enttäuschenden Menschenbild zu verschreiben? Ein Bild, das dem Menschen seine zentrale Würde zu nehmen droht; ein Mensch, unfähig etwas über seine Herkunft zu sagen, völlig überfragt, wenn er an seine Zukunft denkt. Ziel des Daseins? Herkunft des Seins? Mit verzerrtem Lächeln, gefangen in Agnostizismus, Biologismus und Soziologismus verweist er auf die Enttäuschungen, die ihn dazu gebracht haben: Das Versagen des Menschen, trotz seiner großartigen Anlagen. Seine Zerstörungswut, sein tödlicher Neid und seine Überheblichkeit über andere, die ihn stets zu neuen sozialen Hierarchisierungen antreiben. Nichts, was der Mensch nicht entwerten, entlarven, verkaufen will. Nichts, das der Clevere nicht zwei Mal in der Hand herumdreht, um zu überlegen, wie er es zum Objekt seiner Machtgier und seines Willens, andere zu beherrschen – offen oder verdeckt -, umfunktionieren kann.

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Mohammed (s) und seine Gefährten, begleitet von den vier Erzengeln: Gabriel, Michael, Israfil Azrail. Miniatur aus Siyer-i Nebi. (Das Leben des Propheten). 1595 n.Chr. (cc) Wikimedia Commons

Wie sollte der Mensch nach all diesen Enttäuschungen nicht zynisch auf all die hehren Werte blicken, die die Menschen bis ins 20. Jh. zu euphorischen Höchstleistungen angetrieben hatten? Vaterlandsliebe? Degeneriert zu Rassenhass und Genozid.

Erkenntnisdrang? Umfunktioniert zu einer menschenunwürdigen technizistischen Wissenschaft, die Mensch und Natur zu einem Ersatzteillager umzugestalten droht.

Menschenrechte und Toleranz? Nun ein Mittel, um beliebige Gruppen vorauseilend unter Terrorverdacht zu stellen.

Religion? Praktische Methode, um für diesseitige greifbare Werte das Jenseits zu verkaufen; fast überall im institutionalisierten Rahmen zum Opiat geworden, zum Deckmantel privater Interessen.

4. Die Wertestruktur der Quraisch: Religion mit Barcode
In diesem Zusammenhang entspannt sich die Sirah des Propheten Muhammad (sallallahu alaihi wa sallam) vor einem interessanten gesellschaftlichen Hintergrund. Das Makkah der vorislamischen Quraisch stellt am Vorabend seiner Sendung eine Gesellschaft dar, deren religiöse Grundlagen fast vollständig von der Logik des Warenaustauschs aufgesogen schienen.

Vor der Ankunft des Propheten wussten die Quraisch zweifellos, wem sie ihre herausragende Stellung auf der arabischen Halbinsel zu verdanken hatten. Sie selbst tradierten die Geschichte von Ibrahims (alaihi s-Salaam) Wanderung in das unfruchtbare Tal Makkas, von der Rettung von Mutter und Sohn (Haadschar und Isma’il) durch das Entspringen der Zamzam-Quelle und der Wiedererrichtung der Ka’bah durch Vater und Sohn. Sie alle verbinden mit dieser Kernfamilie als dem Beginn des Lebens, die zentralen Riten der Haddsch, die aus einem jeweils 7-fachen Wiederholen des zentralen Laufes (Tawaaf bzw. Sa’y) bestehen. Sie wissen, dass ohne die damit entstandenen Grundgüter Wasser und Ka’bah die Stadt nicht existieren würde. Sie alle kennen Allah als den Schöpfer der Himmel und der Erde (Qur’an 31:25 u.a.); nach dem Willen des Schöpfers zu forschen, das jedoch sahen sie nicht als erforderlich an.

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Abdullah ibn Masud verliest vor den Kuraisch in Mekka den Edlen Koran. Miniatur aus Siyer-i Nebi. (Das Leben des Propheten). 1595 n.Chr. (cc) Wikimedia Commons

Die Quraisch leiten ihren Stolz aus der Abstammung von dieser Familie her. Ihr soziales Prestige entnehmen sie der Versorgung der Pilger (Zamzam) und der Instandhaltung der Ka’bah. Selbstgefällig verweisen sie auf diese wichtigen Ämter und nehmen sich dafür das Recht heraus, die eigentliche Botschaft dieser Kleinfamilie – die Reinigung des menschlichen Lebens von Beigesellung (Schirk) und die Vorbereitung auf das Jenseits – geflissentlich übergehen zu dürfen. Der Qur’an (9:19) verweist darauf mit den Worten: „Betrachtet ihr etwa die Tränkung der Pilger und das Hüten des Unverletzlichen Hauses als dem gleich, der Iman an Allah und den Letzten Tag hat und sich hart anstrengt für Allahs Sache?“

Erstaunlich, so die ironische Frage, dass sich Tränken und Instandhalten dieses Hauses zusätzlich zu seiner vorgeblich gottesdienstlichen Funktion auch unmittelbar auf die Geldbörse auswirken!

Nach Jahrhunderten ist Religion nun zu einem bloßen Verbrauchsgut degeneriert. Religion als Folklore, als toter Ritus, der die Fluktuation der Pilger nach Makkah stimulieren soll. Um die unterschiedlichsten arabischen Stämme anzuziehen, stellte es für die Handelselite der Stadt kein Problem dar, jedem Stamm seinen privaten Götzenaltar zu gestatten. Der Aufruf des Islams, zur Botschaft Abrahams, zum Tauhid, zurückzukehren – Allah als Eins und Einzig und völlig anders zu erklären, musste vor der zynischen Vernunft als Affront anmuten; als Herabsetzung der eigenen vorgespielten Führungsqualitäten, äußerst geschäftsschädigend und damit potentiell gesellschaftszersetzend.

Die Grundstruktur der Werte war nun ausgerichtet auf den eigentlichen wirtschaftlichen Vorteil. Eine transzendente Welt wurde agnostizistisch ausgeklammert. „Nur die Zeit (Dahr) lässt uns vergehen“, so beschreibt der Qur’an das pessimistische Weltbild der Quraisch, das sich offensichtlich nur durch künstliche Betäubung ertragen lässt. Von dieser Welt bleibt nichts, außer den zerfallenen Knochen des Individuums und hoffentlich noch etwas länger, das „gewaltigste“ aller möglichen Güter: Die Erinnerung der Nachwelt an die großen Leistungen, die Freigebigkeit, den Mut, das dichterisch-rhetorische Auftreten, das soziale Prestige des herausragenden Individuums. Die Logik scheint zu sein: „Ich werde zwar dann nicht mehr da sein, weiß aber hier und jetzt , dass es dann andere geben wird, die an meinem Grab vorbeigehen, mich in ihren Gedichten lobend erwähnen, und den Tod meiner Gesamtpersönlichkeit noch etwas hinauszögern.“ Und genau diese schwache Hoffnung gab ihnen den trügerischen Mut, weiterzumachen, sich in das risikoreiche Leben des Händlers zu stürzen, alle Unbilden zu ertragen, um in einer Welt ohne wirklich stabile soziale Institutionen, die jederzeit vom Verfall bedroht waren, den Konkurrenten auszustechen.

5. Der Fernhandel: Quelle des Prestiges
Unerlässlich ist es hier, auf die ökonomische Struktur des makkanischen Handels zu verweisen. Der große Gewinn lockte in den benachbarten Großreichen: Äthiopien, Persien, Byzanz. Zwischen dem eigentlich griechischsprachigen und christlichen Byzanz und dem Beginn des wüstenhaften Innerarabiens lag als Übergangsgebiet der von den Byzantinern abhängige Vasallenstaat der christianisierten arabischen Ghassaniden. Entsprechend hatten die Perser im Südirak einen anderen christlichen Stamm, die arabischen Lachmiden, zu Vasallen gemacht. Ein Geschäft für beide Seiten. Der jeweilige Vasallenstaat übernahm als Pufferstaat den Grenzschutz der Großmächte und sorgte als Vermittler auch für ein Funktionieren des Handels und ein Abfedern der gefährlichen Beduineneinfälle. Hier lagen die Handelsplätze, welche die Araber in der vorislamischen Zeit besuchten. Hier kamen sie mit Zivilisation und Luxus der spätantiken Lebenswelt in Berührung. Hier spürten sie aber auch das soziale Gefälle. So am Beispiel des Grenzgebiets um Syrien, Palästina und Jordanien: Oben die eigentliche Großmacht (griechischsprachig und christlich), dann eine Stufe weiter unten, die Ghassaniden, immerhin Christen aber nun mal als Araber „kulturell minderwertig“ und ganz unten auf der Leiter des Prestiges die polytheistischen Araber aus der Einöde Makkahs, einem ökonomisch unattraktivem Gebiet, das die Großmächte nicht ernsthaft direkt beherrschen wollten.

Die Handelsreisen der makkanischen Händler setzten ein immenses Geschick, Mut zum Risiko, und gewaltige logistische Leistungen voraus. Berichte sprechen von oft über tausend Kamelen, die an diesen Großunternehmen beteiligt waren. Wer es schaffte, die geographischen Herausforderungen zu überwinden, wer den Angriffen der Beduinenstämme standgehalten bzw. sie durch entsprechende Schutzgeldzahlungen milde gestimmte hatte und nach monatelangen Strapazen mit Luxusgütern beladen nach Makkah zurückkehrte, dem galt der unumschränkte Beifall der anderen Investoren als sicher. Nun hatte er das erreicht, weshalb es sich lohnte, all die Demütigungen zu ertragen, die er von den überheblichen Städtern erleben musste. Nun konnte er diese Demütigungen an andere weitergeben, konnte sich in Selbstdarstellung vor seinen Konkurrenten aus den anderen Sippen weiden. Das ist der Stoff, aus dem die arabische Dichtung der vorislamischen Zeit gestrickt ist: Eigenlob, Demütigung des Gegners, maßlose Selbstdarstellung. Alles eine Kompensation der erlittenen Erniedrigung?

Wer es bis hier geschafft hat, dem erscheint die Botschaft des Islam wie ein Schlag ins Gesicht. Er versteht, dass seine Werte nicht wirklich Bestand haben, dass sie nicht auf eine transzendente Quelle verweisen. Er weiß, dass er seine eigene Vormachtstellung einem ausgeklügelten System von ökonomischem und sozialem Kapital verdankt, einem System von ertragenen Demütigungen, die er allzu bereitwillig an andere weitergibt, im Gedanken, so sein Selbstwertgefühl bewahren zu können. Die Hierarchisierung der makkanischen Gesellschaft erscheint als ein direktes Produkt des immer stärker florierenden Fernhandels. Ökonomische Ausbeutung der eigenen Gesellschaft ist die Folge der Gier nach Anerkennung, Macht und Tilgung der selbst erlittenen psychologischen Wunden.

Die Botschaft des Islams hielt den Finger in diese Wunde, sie wies auf die den Akteuren bekannte Tatsache hin, dass die Makkaner sehr wohl die Quelle ihres Reichtums kannten: Die transzendenten Werte, welche aus einer anderen Welt stammen. Werte, die nicht wirklich käuflich sind, Werte, die sich in dem Augenblick verflüchtigen, wo man sie zum Tauschobjekt macht. Während die einen nach langem Nachdenken, nach einer Phase des Zögerns die neue alte Botschaft als Befreiung wahrnahmen, als Befreiung aus der selbst verschuldeten Versklavung, reagierten andere gereizt und versuchten in panischer Angst vor der Entlarvung, die klaren Zeichen zu vertuschen. Vertuschen oder verdecken – wofür der Qur’an das Wort „Kufr“ verwendet. Besonders in Rage geraten ließ sie, dass sie an diese Botschaft erinnert wurden durch die Outlaws der Gesellschaft, die ihnen den Spiegel für ihre Handlungen vorhielten. Sie wurden ermahnt, von denen, die sie bis jetzt verachtet hatten. Dieses Gefühl, ertappt und durchschaut zu sein, brachte sie dazu, sich gegen ihre eigenen moralischen Prinzipien zu wenden. Sie griffen zur Gewalt, während sie bis dahin als klug agierende Händlerschicht eher Methoden des Überredens, Bestechens, Vereinnahmens und Schmeichelns angewandt hatten.

Ihren eigenen so hoch gehaltenen Wert des unbedingten Sippenzusammenhalts („Hilf deinem Sippenangehörigen, egal ob er im Recht oder Unrecht ist“) brachen sie. Den Wert der Gastfreundschaft, auf dem letztendlich der Reichtum der Stadt beruhte, brachen sie, im vollen Bewusstsein, sich dabei selbst zu schaden und der Anerkennung durch die anderen Araberstämme verlustig zu gehen. In der Folge verstrickten sie sich in ihre eigenen Widersprüche, die sie schließlich zu Fall brachten. Einzelne Akteure erscheinen hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Wertanforderungen. So setzt sich Abbas, der Onkel des Propheten Muhammad (sallallahu alaihi wa sallam), beim Treueschwur von Aqabah als Nichtmuslim und „ehrlicher Makler“ für den Schutz seines Neffen bei den neuen Muslimen aus Madinah ein und ermahnt sie, ihr Versprechen zu halten. Wenige Jahre später beteiligt sich Abbas bei der Schlacht von Badr und steht als Verteidiger der Interessen seiner Stadt gegen die Muslime: Ein Wertekonflikt zwischen Sippensolidarität und Gemeinschaftsehre.

Besondere Unkenntnis der eigentlichen Sirah-Verhältnisse bringt Muslime und Nichtmuslime häufig dazu, den Islam als eine Religion der Wüste zu betrachten. Solchen Beschreibungen entgeht, dass die ersten Adressaten des Qur’ans Städter waren und eben NICHT die Nomaden der Wüste, welche erst in der madinansischen Phase zu politischen Akteuren wurden. Die Weltgewandtheit der makkanischen Händler zeigt sich besonders am Auftritt des Amr b. Al-As vor dem äthiopischen Negus. Ausgesandt mit dem diplomatischen Auftrag, den Negus gegen die in Äthiopien Zuflucht suchenden Muslime einzunehmen, kommt es zu einer Anhörung, bei der sowohl die Muslime als auch Amr und sein Begleiter ihr jeweiliges Anliegen und die Sicht der Dinge darstellen sollen. Nachdem die Muslime die Verbindung zwischen Christentum und Islam anhand der qur’anischen Geschichte von Maryam herausgestellt hatten, entschließt sich Amr, die drohende Annäherung zu sabotieren, indem er auf die Deutungsunterschiede zwischen der christlichen und islamischen Auffassung von der Natur Jesu eingeht. Amr weiß also wohl Bescheid über die Grundlagen des Christentums, unwissend ist er nicht, jedoch zynisch genug, um beide Religionen gegeneinander auszuspielen.

Für diesen Menschentyp verkörperten auch die heimischen Götzen schon lange keine unantastbare transzendente Qualität mehr. Der religiöse Pluralismus hatte die Makkaner mit Grundwissen über die verschiedenen Gemeinschaften ausgestattet; für die eigene Lebensführung reichte jedoch eine Religion und ein Wertesystem, das sich plastisch formen ließ und das man zur Monopolisierung knapper Güter einsetzen konnte. Wirklich glaubhaft waren die eigene Religion und die konkurrierenden Sinnangebote nicht, wenn der Lebensmittelpunkt nicht mehr die eigentliche Ka’bah mit ihrer immateriellen Botschaft war sondern eine Ka’bah, die quasi durch eine „Brille aus Golddinaren“ betrachtet wurde.

„Wir sahen unsere Vorväter dies tun“ – der übliche Rekurs einer in ihrer Wertestruktur verunsicherten Gesellschaft; wohl wissend, dass zwar die Vorväter diesen Götzenhandel betrieben, dass die Vorväter dieser Vorväter jedoch den Grundstein für etwas völlig anderes gelegt hatten: Den Grundstein für das leere Haus, zu dem der Pilger kommt, um es zu umschreiten und den Schwarzen Stein zu küssen. Den schwarzen Stein, der seine dunkle Farbe den falschen Taten der Menschen verdankt. Eine klare und unmissverständliche Aufforderung, an etwas anderes zu denken, das auch einmal weiß war und dann schwarz geworden ist: Das Herz des Menschen, das geheimnisvolle Haus der Persönlichkeit, das wir in unserem materiellen Körper nicht wirklich finden. Nicht der rote Muskel als Sitz des Blutkreislaufs, sondern das leuchtend-weiße Innere des Menschen, das durch jede falsche Handlung einen schwarzen Fleck erhält – so lange bis vor lauter Schwärze und Zynismus kaum noch ein Lichtstrahl hindurch dringt. In diesem Zustand erscheinen dem Subjekt wie selbstverständlich alle wahren Werte als Hirngespinste. Es gibt nur die dunkle Seite des Lebens, alles andere scheint eine List der Konkurrenten, ein Geschäftstrick zu sein, um mich wirtschaftlich auszunützen. Man schließt von sich auf andere. Die Welt in einem schwarzen Spiegel färbt sich entsprechend dunkel.

Errichtet war demnach die Ka‘ba als ein Umschlagplatz der Herzen und ein Treffpunkt der eigentlichen Grundlagen von menschlicher Gleichheit und Gemeinsamkeit. Ein Umschlagplatz für Waren zu sein, stand dabei nicht im Widerspruch – sollte jedoch nicht die eigentliche Botschaft der Ka’bah in den Hintergrund rücken. Die alte Herausforderung des Menschen, das Transzendente nicht in einen vermeintlichen Geldwert umzutauschen, ist damit plastisch vorgeführt. Jeder Generation von Pilgern bleibt es überlassen, wie sie auf diese Einladung reagieren will.

Interessant ist, dass trotz der Berufung auf die eingefahrene Sitte bestimmte, dem Gewinnstreben entgegenstehende Werte, demontiert wurden, dass aber gleichzeitig trotz aller Verfälschung andere Begriffe durchaus Bestand hatten. Allah als Schöpfer der Welt war den Quraisch bekannt und der Begriff des Schöpfers war nicht in Vergessenheit geraten. Aber ein Schöpfer, der als weit weg betrachtet wurde; den direkten Kontakt pflegte man lieber zu Vermittlern. Ein Schöpfer als logisch eingängige Ursache des Universums, aber ein Gott, dem man glaubt, keine Rechenschaft schuldig zu sein: Ein Jüngster Tag existierte im Mainstream-Polytheismus Makkahs nicht. Gott als die absolut nicht zu hinterfragende Quelle alles Guten, als der absolute Wert an sich – das war die Botschaft, die der Qur’an von Neuem brachte.

6. Wertegenese in der Ethik
In der philosophischen Ethik wird seit jeher diskutiert, woher Werte stammen. Gibt es ein vom Menschen unabhängiges Gutes, nach dem sich der Mensch zu richten hat? Haben Werte eine objektive Qualität oder sind sie subjektive Projektionen, gespeist durch gesellschaftliche Interessen? Diese Debatte verlagerte sich auch auf die Sozialwissenschaften. Während nicht wenige Soziologen die Existenz von Werten rein aus gesellschaftlichen Funktionen heraus zu begründen suchten, wandte sich Max Weber gegen diese Verkürzung. Werturteile können nicht durch normative Urteile begründet werden. Was empirisch ist, kann mir nicht beibringen, was sein soll. Das Sollen ist nicht aus dem Sein abzuleiten.

Was bringt nun die einzelnen Werte des Menschen hervor, in einer Zeit, in der Religion und Offenbarung ihre gesellschaftliche Normsetzungsfunktion verloren haben? Im Dezisionismus, der die „Entscheidung“ des Menschen in den Vordergrund rückt, wird der Versuch einer objektiven Erklärung ausgeklammert. In letzter Konsequenz setzt nun mal der Mensch seine Werte (religiöse Begründungen könnten somit darunter subsumiert werden). Wie Max Weber es in seinem berühmten Zitat pointiert ausdrückt:

„Je nach der letzten Stellungnahme ist für den Einzelnen das eine der Teufel und das andere der Gott, und der Einzelne hat sich zu entscheiden, welches für ihn der Gott und welches der Teufel ist.“[1]

Damit befreit Weber die Wissenschaft von der ihr oft angedichteten pseudowissenschaftlichen Funktion der Sinnstiftung. Der Mensch kann wohl durch Wissenschaft Zusammenhänge erkennen und auch menschliches Verhalten deutend verstehen – die Bewertung des einzelnen Phänomens als gut oder schlecht ist jedoch keine Aufgabe der Wissenschaft. Mit dem Dezisionismus erfolgt ein nüchternes Eingestehen des Scheiterns wissenschaftlich großspurig auftretender Projekte der Sinngebung. Mit dem Dezisionismus steht man eigentlich wieder am Anfang; jedoch ergibt sich auch die Chance auf einen ehrlichen Neuanfang. Die eigentliche Herausforderung des Menschseins wird nicht von angeblich wissenschaftlicher Beweisbarkeit verhüllt.

7. Der transzendente Charakter von Werten
Die Frage nach dem letzten Sinn kann demnach weder von der Wissenschaft gelöst, noch, wie oft suggeriert, von der Wissenschaft ad acta gelegt werden. Die zentrale Bestimmung des eigenen Welt- und Menschenbilds kann niemand einem anderen abnehmen. Wo immer Menschen in zynisch-nihilistisches Leugnen aller Werte abgeglitten sind, weist das Ereignis des Wahy den Menschen auf seine Bestimmung hin. Der Wahy beginnt mit einer Rekonstruktion des Menschenbildes. Er erinnert den Menschen, dass er ein geehrtes Wesen ist, vor dem sogar die Lichtwesen der Engel die Niederwerfung ausgeführt haben und er erinnert daran, dass der eine, der dies verweigert hat (Iblis), genau diese Tatsache den Menschen vergessen lassen will. Wenn Iblis den vom Schöpfer befohlenen Respekt vor Adam verweigert hat, so liegt auch das erste Interesse des Iblis darin, dies vor dem Menschen zu verheimlichen. Erst eine gebückte, sich gedemütigt fühlende Kreatur kann der Iblis auch dazu bringen, sich von der eigentlichen Quelle des Guten und der Werte, die immer einen transzendenten Charakter haben, abzuwenden. Nur so kann Iblis hoffen, den Menschen an andere Instanzen versklaven zu können – zum Schaden des Menschen, verkleidet als Befreiung.

Die Würdigung des Menschen liegt nach dem Qur’an darin, dass der Mensch aufgerufen ist, Zeichen zu lesen. Der Kosmos ist angefüllt mit Zeichen, es entfaltet sich ein Buch vor den Augen des Menschen. Je mehr er dieses Buch liest, desto mehr begreift er sich selbst als Buch und desto mehr erscheint ihm auch der herabgesandte Wahy-Text als zutiefst komplementär zu diesem Buch. Und diese Form von Lesen erschließt sich auch dem Analphabeten.

Eine rein soziologische Wertegenese zielt also am zutiefst Menschlichen vorbei. Seine Werte bezieht der Mensch nach einer religioiden Soziologie nicht aus einer Betrachtung des Gesamtbildes, aus der Tatsache seiner eigenen Geschöpflichkeit sondern schlicht aus dem Rahmen seiner beschränkten und ihn einengenden gesellschaftlichen Verhältnisse. So mag beispielsweise eine marxistische Geschichtsbetrachtung auf den ersten Blick durchaus eine Erklärung für Unterdrückungsmechanismen der einzelnen Gesellschaftsformationen gewähren. Geliefert wird hingegen kein Gesamtbild. Was war nun der Lebenssinn des Einzelnen unter den vergessenen Milliarden von Unterdrückten in der Phase der Sklavenhaltergesellschaften? Was war die Aufgabe all der namenlosen Opfer der geschichtlichen Raserei von Macht, Ausbeutung und Eroberung? Nur ein Bezug zur Transzendenz kann den Menschen davor bewahren, auf Kanonenfutter der Geschichte reduziert zu werden.

Nur ein Bezug auf den transzendenten Charakter von Werten macht diese unangreifbar, entzieht sie der Neigung des Menschen, diese zu verkaufen und umzufunktionieren. Nur immaterielle Werte haben die Kraft, den Menschen wirklich zu verändern und ihn davor zu bewahren, dass er sich selber verkauft, umfunktioniert, verrenkt und verstellt, um sich zum Zweck für etwas Niedriges zu machen.


1 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. 1919, S. 501.

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Studium der Übersetzungswissenschaft, Islamkunde, Soziologie und allgemeinen Religionswissenschaft.

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