Wissenschaft als Adamsblatt

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Oder: Wie blutrünstig ist der Mensch?

Die Wissenschaft hat die Kirche ins Dorf geschickt, wenn es um die Frage geht, wie die Welt funktioniert. Ob sich die Erde um die Sonne dreht oder sich Sonne, Mond und Sterne um die Erde drehen, lassen wir uns ohne darüber nachzudenken von einem Astronomen beantworten. Die Wissenschaft hat uns erhebliche Dienste geleistet in der Bekämpfung von Seuchen, im Transport, in der Kommunikation und in unserem generellen Wohlbefinden als Spezies. Was aber, wenn wir uns nicht auf diese Erfolgsgeschichte verlassen können? Oder wenn gerade diese Erfolgsgeschichte Wissenschaftler dazu treibt zu schummeln?

Welche Fragen werden gestellt?

Im „wissenschaftlichen Volksglauben“ scheint es unumstößliche Wahrheiten zu geben, die sich trotz langjähriger Forschung und Veröffentlichungen hartnäckig halten. Teilweise führt das sogar dazu, dass diese „Wahrheiten“ ihren Abdruck auf die Wissenschaft selbst hinterlassen, nicht nur, indem sie bestimmte Fragestellungen aufwerfen, sondern auch, indem sie den wissenschaftlichen Antworten eine bestimmte Erwartungshaltung aufzwängen.

Eines dieser Beispiele ist hierzulande die Frage nach der Blutrünstigkeit des Menschen als Art. Hunderte Millionen Kriegstote in den vergangenen Jahrhunderten drängen die Frage auf, woher all das Töten kommt. Mit anderen Worten: Es scheint doch ein genetisches Problem mit uns Menschen zu sein, und ja, wenn das evolutionäre Prinzip des survival of the fittest wirkt und der individuelle Eigennutz biologisch sinnvoll zu sein scheint[1], dann sollte doch der Nachweis der kriegerischen Natur des Menschen leicht fallen. Genau dies wurde in vergangener Zeit auch von Anthropologen und Psychologen versucht. In seinem „The Better Angels of Human Nature“ stellt Pinker die These auf, dass die Menschen in den letzten Jahrtausenden im Gegensatz zu ihrer Vergangenheit als Jäger und Sammler in einer vergleichsweise friedlichen Zeit leben: Aber die Natur des Menschen an sich sei kriegerisch.

Der Umgang mit den Daten

Pinker zieht für seine These Daten heran, die nur das Holozän, die letzten 10.000 Jahre, umfassen. Bezogen auf die Anzahl an Toten sei die Anzahl der Kriegstoten in den letzten Jahrtausenden zurückgegangen. Die „Ursprungsform“ des Menschen am Anfang seines Betrachtungszeitraums als nomadisch umherziehende Sammler sei von Vergewaltigungen, Raubzügen und Mord geprägt. Dieser Ansatz mit dem zeitlichen Ursprung im Holozän hat aber seine Mängel, denn er blendet die 200.000 oder mehr Jahre davor, seit Menschen den Erdball bevölkern, aus: Aber gerade aus der Zeit davor, im Pleistozän, sind keinerlei archäologische Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen zu finden.

Bei seiner Analyse der „ursprünglichen“ Menschen verlässt sich Pinker auf Daten von Bowles und Gintis, die acht zeitgenössische Beispiele von vermeintlichen Kriegen zwischen Jägern und Sammlern in ihrem „A Cooperative Species“ aufführen. Douglas Fry argumentiert jedoch in seiner Kritik im „War, Peace and Human Nature“, dass diese acht Beispiele erstens eine Überrepräsentierung von Kriegstoten beinhalten, dass zweitens acht Beispiele zu wenig sind für eine statistische Aussage und dass drittens die Kriegstoten in einigen dieser Beispiele nicht aus Auseinandersetzungen zwischen Jägern und Sammlern herrührten, sondern aus Überfällen von kolonialen Angreifern. Zu guter Letzt weist Fry auch nach, dass sich Bowles in mindestens einem seiner Beispiele verrechnet hat (ein starkes Argument für eine bessere mathematische Ausbildung von Geistes- und Kulturwissenschaftlern – peinlich für den Peer-Reviewer).

Kulturelle Voreingenommenheit

Entsprechend vernichtend fällt Frys Urteil aus: Zahlen und Statistiken alleine machen keine Wissenschaft, sie geben höchstens den Anschein von Wissenschaftlichkeit und Objektivität. Zitat seiner wissenschaftsphilosophischen Kritik:

„Scientists and scholars, editors and publishers, reviewers and readers, already ‘know’ all about warlike human nature and have digested the myth of a warlike past – such ‘knowledge’, in other words, is an aspect of their shared Occidental belief system.”

Die psychologischen Mechanismen sind nachvollziehbar. Wie auch der Einzelne nicht gerne zur Rechenschaft gezogen wird und sich auf externe Einflüsse herausredet, so ist dies auch für ganze Kulturkreise denkbar: Die Last der eigenen blutrünstigen, kriegerischen Vergangenheit lässt sich am leichtesten tragen, wenn man sie entweder gemeinsam mit anderen trägt oder man sich gleich einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte entzieht, indem man sich auf genetische und evolutionäre Kräfte, auf die man ja keinen Einfluss hat, beruft.

Das erinnert mich stark an Gespräche, bei denen ich mein europäisches Gegenüber mit dem seit den Kreuzzügen von den Westeuropäern auf andere Weltregionen kontinuierlich verübten Leid konfrontierte und entweder zur Antwort erhielt „ja aber das haben die Muslime und Chinesen genauso gemacht“ oder „das Morden und Kriegführen ist menschliches Naturell“.

Wenn also dieser spezifisch westliche Reflex so intrinsisch in so weiten Teilen der Bevölkerung verankert ist, dann liegt es nahe, daraus Kapital zu schlagen.

Das Geld macht die Wissenschaft

Nichts anderes machen Autoren, wenn sie mit ihren Veröffentlichungen die Aufmerksamkeit möglichst vieler Leser erregen möchten. Ist es nicht legitim, dass ein Autor ein breites Publikum erreichen will? Und dann muss auch noch ein Verlag bereit sein und das Risiko eingehen, ein Spezialthema zu veröffentlichen.

Die Aussicht auf finanziellen Erfolg ist jedoch ein Aspekt, der das Rad der kulturell voreingenommenen Wissenschaft weiter antreibt: Versteht es eine Veröffentlichung, die Saiten der Seele ihrer Leserschaft virtuos zu spielen, indem bald hier ein als Naturkonstante empfundenes Fake Fact stillschweigend vorausgesetzt wird, bald dort ein Balsam für ein gesamtgesellschaftliches Trauma aufgetragen wird, kann mit hohen Auflagen gerechnet werden. Der Wissenschaft als solcher ist damit kein Dienst erwiesen. Eine Veröffentlichung, die das oben genannte „Glaubenssystem“ bestärkt, indem sie daraus im wahrsten Sinne des Wortes Wert schöpft, mag seinen Lesern eine befriedigende Bestätigung ihres egozentrischen Weltbilds geben, aber indem sie genau das tut, macht sie sich zum Gefangenen eines Glaubens, nicht des Wissens.


[1] Die Fakten zeigen, dass in der Tierwelt das altruistische Prinzip vorherrscht: Herden warnen einander vor Raubtieren durch Warnschreie, Raubtiere rufen ihre Artgenossen zu einem geschlagenen Beutetier herbei. Das Gen, das diese Form von Kooperation bedingt, überlebt, auch wenn es auf Kosten einzelner Individuen geht. Mit seinem „The Selfish Gene“ liefert Dawkins eine Erklärung für kooperatives Verhalten.

Bildnachweis:https://commons.m.wikimedia.org/wiki/File:David_Teniers_the_Younger_-_The_Alchemist.jpg
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About Author

Nach seinem Abschluss an der TU-Darmstadt verschlug es Murat Gürol nach Wien, wo er zwischen 2005 und 2008 Islamologie am Islamologischen Institut studierte. Er ist seit 20 Jahren tätig in der Softwarebranche.

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