Erinnerungskultur: Klingt doch einfach?
Ethnische Gruppierungen, verfolgte Minderheiten, die sich gegen das Vergessen sträuben. Die in regelmäßigen Abständen Jahrestage trauernd begehen, Gedenksteine einweihen, sich dafür einsetzen, Straßennamen umzubenennen und öffentliche Plätze symbolisch mit Namen und Erinnerungen zu belegen. All dies ist lobenswert und sollte unterstützt werden. Doch in der Praxis gestaltet es sich weniger einfach. Und hiermit ist nicht gemeint, dass man im öffentlichen Raum auf Widerstand trifft, dass politische Kräfte der Gegenseite die Diffamierungen umdrehen und solche Projekte blockieren. Das ist ohnehin klar und zu erwarten und dagegen muss organisierter Widerstand geleistet werden. Widerstand gegen das Vergessen, gegen die perfiden Methoden schrittweise Verbrechen und Völkermorde zu relativieren, um eines Tages die an den Völkermord erinnernden und trauernden der Volksverhetzung beschuldigen zu können!
Erinnerungskultur: Diesen Zug will wohl keiner verpassen
Die Schwierigkeiten liegen ganz woanders. Was, wenn die Vertreter einer Erinnerungskultur plötzlich ihr eigentliches Anliegen verloren gehen sehen? Sollte dies nicht das eigentliche Anliegen sein, schreckliche Ereignisse aufzuarbeiten, zu überwinden, um spätere Generationen, die unbeteiligt waren, wieder zusammenzubringen?
Eine der großen Herausforderungen der Erinnerungskultur ist es, wenn Selbstkritik vorgegaukelt wird um letztendlich die eigene Schuld durch vorgespieltes Aufarbeiten zum manipulativen Instrument gegen andere umzugestalten. So sieht man in vielen Gesellschaften, wo schreckliche albtraumartige Ereignisse aufgearbeitet werden, erst eine Neigung zum Ableugnen. Man versucht zu relativieren. Die zweifellos vorhandenen Verbrechen der Gegenseite werden gegen das eigene Leid ausgespielt. Kommt man damit nicht mehr weiter, dann bietet sich ein Paradigmenwechsel an: man springt auf den Zug der anderen auf, man reitet auf der Welle der Kritik mit, um sich selbst reinzuwaschen.
Im Nachkriegsdeutschland der 50er-und 60er-Jahre war das erste Stadium das Verleugnen der Vergangenheit. Im Kalten Krieg wollte man Westdeutschland als Bollwerk gegen den Warschauer Pakt ausbauen. Nach einer raschen Aburteilung einer überschaubaren Anzahl von Nazi-Größen durch die amerikanischen Besatzungstruppen wurde über die Mitbeteiligung großer Teile der Bevölkerung rasch ein Schleier des Vergessens geworfen. Viele der alten Eliten, welchen man nur eine schwache oder indirekte Beteiligung vorwerfen konnte, wurden in das neue System der Bonner Republik integriert.
Ein Epocheneinschnitt waren die späten 60er-Jahre, als es zu einem Generationenwechsel kam. Die neue Generation hatte gewissermaßen ihr eigenes Süppchen zu kochen mit der älteren Generation. Und was bietet sich besser als Munition gegen die eigenen Eltern an, als ihnen Versagen im Angesicht des Bösen vorzuwerfen? Die junge Generation ging zum Angriff über. Die ältere Generation wehrte sich mit den üblichen Angriffen, welche das Gespenst des Bolschewismus, des linksradikalen Extremismus und der gesellschaftszersetzenden Drogenkultur an die Wand malte. Klar, in Zeiten von Woodstock, Experimenten mit neuen Lebens-und Vergemeinschaftungsformen, psychedelischer LSD-Hintergrundmusik waren diese Vorwürfe auch kaum aus der Luft gegriffen. Nach einem mehrjährigen Patt, in dem sich die Generationen endgültig auseinandergelebt hatten, kam es in den 80ern zu einem Umschwung: Offenes Aufarbeiten der eigenen Vergangenheit wurde plötzlich salonfähig. Mit dem beginnenden Rückzug der tatsächlich an den Verbrechen beteiligten älteren Generation von den Schalthebeln der gesellschaftlichen Macht, gestaltete sich dies auch weitaus glatter. Moralisch fraglich bleibt natürlich hier der Wert einer Debatte, wenn es gesellschaftlich ohnehin nicht mehr “weh“ tut. Was in den 50ern notwendig gewesen wäre so spät nachzuholen, hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Wenn man letztes Jahr fünfmal über die rote Ampel bewusst gefahren ist, macht es heute keinen Sinn bewusst fünfmal bei Grün an der Ampel stehen zu bleiben. Nachholen verkommt oftmals zum toten Ritual.
Der Paradigmenwechsel
Die Nachkriegsdeutschen erscheinen durch ihre Flucht nach vorne spätestens seit den 80er-Jahren als reingewaschen. Gestern noch Weltmeister im organisierten und bürokratisierten Verbrechen, heute Champion in der Disziplin der Selbstbezichtigung. Ernsthafte Selbstkritik? Oder doch nur ein Instrument, andere Bevölkerungsgruppen und Staaten unter dem Deckmantel der Aufarbeitung unter Druck zu setzen.
Selbstkritik mit der Kritik an anderen zu verwechseln scheint aber eine zutiefst menschliche Neigung zu sein. Vielleicht liegt hier doch viel mehr an ödem Generationenkampf vor als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Nun ja, das Ergebnis ist dasselbe. Nach erfolgreicher Selbstkasteiung und Katharsis hat man sich das „Recht“ ersteigert, den moralischen Zeigefinger gegenüber anderen zu heben. Der Aufruf Selbstkritik zu betreiben kann nun zu einem politischen Machtinstrument umfunktioniert werden. Man sieht das in regelmäßigen Abständen, wenn es um die Beziehung zu anderen Staaten geht, denen Völkermorde vorgeworfen werden:
- Sollen die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen gestärkt werden, so werden die Genozidvorwürfe beiseitegeschoben: man will ja nicht den zerbrechlichen Frieden aufs Spiel setzen. Schließlich bemühe man sich weiterhin in einer Politik der kleinen Schritte um eine Annäherung. „Bitte keine überstürzten Aktionen! Ohnehin sind die Vorwürfe noch immer nicht ganz geklärt.“ Man könne sich noch nicht festlegen, denn „Aussage stünde gegen Aussage“.
- Sollte man sich andererseits für eine wirtschaftlich-politische Annäherung gar nicht interessieren, dann kann man die Vorwurfskeule immer noch rechtzeitig herausholen: „Ihr habt da noch einen Genozid, wenn ihr den nicht schleunigst anerkennt/aufarbeitet, müssen wir zu Sanktionen greifen.“
Fallbeispiel für Aufarbeitung
Ein Beispiel aus einem kleinen Städtchen im nordbayerischen Nachkriegsdeutschland: Der Name spielt keine Rolle, denn ähnlich dürfte es in vielen Orten gelaufen sein oder noch laufen. In den Novemberpogromen von 1938 (“ Reichskristallnacht“) wurde die dortige Synagoge geschändet, die jüdischen Friedhöfe verwüstet. Das alles unter den Blicken der Bevölkerung. Grabsteine mit hebräischen Aufschriften wurden zur Straßenpflasterung verwendet. In der Nachkriegszeit trampeln Menschen weiterhin auf diesen Steinen herum. Der ganze Ort weiß das, die Älteren können in den 70ern und 80ern meist noch mit Augenzeugenberichten aufwarten. Diese Steine liegen dort tatsächlich bis in die 90er-Jahre, der Skandal ruft nicht mal ein Achselzucken hervor. Bis findige Leute auf die Idee kommen, auf den Zug der Aufarbeitung aufzuspringen. Die in der Nazizeit der jüdischen Gemeinde weggenommene Synagoge, welche schamloser Weise tatsächlich zu einem Heimatmuseum (!) zweckentfremdet worden war – durch die NS-Zeit hindurch in die westdeutsche Nachkriegsrepublik – wird nun zu einem jüdischen Museum umfunktioniert. Die Grabsteine werden von den Wegen entfernt und auf den notdürftig restaurierten ehemaligen jüdischen Friedhof zurückgebracht in Verbindung mit einer Gedenktafel. Viele der Steine wurden auch aus dem durch den Ort fließenden Bach gerettet und in verwitterten Zustand ausgestellt.
Man weiß nicht, ob man sich darüber freuen soll oder nicht. Natürlich, jede Aufarbeitung von Verbrechen ist notwendig. Die Erinnerung bewahren – auch mit kleinen Zeichen – ist lobenswert. Sicherlich haben viele an diesen Aktionen Beteiligte eine ehrliche Absicht. Es bleibt nur ein unangenehmes Gefühl zurück. Mit ehrlicher kollektiver Aufarbeitung hat das kaum etwas zu tun, sondern es ist wieder die Aktion von einigen Mutigen. Diesen Kräften versucht man sich so lange entgegenzustellen, wie es geht. Solange man diese Aufarbeitung totschweigen kann, versucht man es. Doch wenn es nicht mehr klappt, dann springt man auf den fahrenden Zug auf, man will ja nicht im gesellschaftlichen Abseits landen. Und der lokalen Tourismusbranche scheint es ebenso förderlich zu sein. Oder wer will denn heute noch ernsthaft in ein Heimatmuseum gehen?
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